Pushbacks von Geflüchteten; massenhafte Bestechung und massenhaftes Zwangsversteigern – der ganz normale Wahnsinn

Von Ralf Kliche.
Es gibt Tage, da bündeln sich in den Nachrichten exemplarische Probleme und Konflikte eines Landes in besonderer Art und Weise: Heute, am 22.02.2018, ist so ein Tag, an dem das Skandalöse der griechischen Verhältnisse im Nebeneinander der Berichterstattung über verschiedene Auseinandersetzungen in besonderer Weise deutlich wird.
1. Novartis;   2. Push-Back am Evros;
3. Vio.Me und die Zwangsversteigerungen

1. Novartis.    Da ist zunächst der große Aufmerksamkeit und Aufregung erzeugende Skandal um die Vorwürfe, der Pharmahersteller Novartis habe zahlreiche prominente Angehörige der bis 2015 regierenden Politikerkaste bestochen.
Er ist seit Wochen Thema in der griechischen Öffentlichkeit, nachdem die Untersuchungsergebnisse der Staatsanwaltschaft von der Regierung Tsipras zugänglich gemacht wurden. Wir berichteten am 07.02. und auch der Spiegel ist unter dem Titel „Der größte Skandal in der Geschichte des Staates“ auf den Zug aufgesprungen. (1) Die griechische Bevölkerung dürfte über die Ereignisse / Vorwürfe allerdings nicht „schockiert“ sein, wie der Spiegel behauptet, sie dürfte sich eher bestätigt fühlen.
Nachdem in den letzten Tagen die Vorwürfe der Beschuldigten gegenüber der Regierung im Zentrum der Berichterstattung standen, dass diese die Justiz für Angriffe auf die Opposition missbrauche, wurde durch die Entscheidung des griechischen Parlaments von gestern Abend die Tür für weitere parlamentarische Untersuchungen der Vorgänge aufgestoßen. Über die Vorgeschichte und politische wie medizinische Hintergründe berichtete Wassilis Aswestopoulos gestern ausführlich. (2) Seine Erwartungen an den Ausgang der Abstimmung wurden bestätigt: Das griechische Parlament beschloss die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses aus 21 Mitgliedern, der die Vorwürfe gegen alle 10 beschuldigten Politiker hinsichtlich Bestechung und Geldwäsche untersuchen wird. In einem Monat sollen erste Ergebnisse vorgelegt werden. Für jede beschuldigte politische Person wurde separat abgestimmt, ob die Kommission ihr Handeln untersuchen soll. Dabei nahm die Nea Dimokratia nicht an der Abstimmung teil, die Regierungsparteien SYRIZA und ANEL stimmten ebenso zu wie die kommunistische Partei KKE und die faschistische Chrysi Avgi; der „neue sozialdemokratische Zusammenschluss“ DISY wählte ungültig und die Liberalen enthielten sich. (3)

Für ein vollständiges Bild der Beurteilung der Vorgänge sollte zum einen nicht unerwähnt bleiben, dass in dem am selben Tag von Transparency International veröffentlichten Korruptionsindex 2017 Griechenland jetzt an Stelle 59 von 180 zwischen Saudi-Arabien und Jordanien liegt und somit gegenüber dem Vorjahr um 10 Positionen nach oben rutschte. Demgegenüber rutschte Deutschland durch „Nichts-Tun“ um zwei Positionen auf Platz 12 hinter Luxemburg und Großbritannien ab. (4)
Zum anderen sollte die öffentliche Fokussierung auf die Bestechlichkeit von Politikern nicht darüber hinweg täuschen, dass dies nur ein Aspekt der Strukturen eines kapitalistisch organisierten Gesundheitswesens ist, in dem die Korrumpierbarkeit von Ärzten, die als profitorientierte Kleinunternehmer durch ihre Verschreibungspraxis die Profite der Pharmariesen fördern, eine genauso wichtige Rolle spielt. Ohne die tätige Mithilfe dieser Ärzte hätte ein derartiger, auf bis zu 23 Milliarden Euro bezifferter, Schaden für den griechischen Staat nie entstehen können – und darauf wird in der kritischen Berichterstattung auch hingewiesen, z.B. durch Verweis auf die verbreitete Praxis der Einladung von Ärzten durch Pharmaunternehmen. Unbestechliche Ärzte wehren sich gegen diese Form der Bestechungspraxis, etwa in dem gemeinnützigen Verein „Mein Essen zahl ich selbst“. (5)

2. Push-Back am Evros

Angesichts des Bestechungsskandals prominenter Politiker der früher regierenden Parteien, der einer unter niedrigen Umfragewerten leidenden Regierung durchaus zupass kommen dürfte, kommt der Skandal des Umgangs mit Flüchtlingen an der griechisch-türkischen Grenze am Evros sicher eher ungelegen. Er verweist auf einen politischen Umgang der Regierung mit den Flüchtlingen, der nicht nur zufälligen sondern eher systematischen Charakter hat und sich in Gesellschaft wie an der Parteibasis von SYRIZA keiner Sympathie erfreut.

Nachdem Anfang Januar im Anschluss an eine Fernsehsendung Gerüchte darüber auftauchten, dass die griechischen Grenzbehörden zunehmend Flüchtlinge direkt wieder zurück schicken, die am Evros über die türkische Grenze kommen, legte der griechische Flüchtlingsrat jetzt detaillierte Zeugenaussagen vor, die die Vorgänge bestätigen. Danach werden diese Push-Backs systematisch angewendet. Den Flüchtlingen wird so die Möglichkeit genommen, um Asyl zu ersuchen. (6)

In den veröffentlichten Protokollen heißt es u.a.: „Sie haben uns zu einer Polizeiwache geführt und unterbanden jedes Mal gewaltsam, dass wir miteinander sprachen. Sie ließen uns ohne Wasser und Essen bis zum Abend, dann zogen sie uns Kapuzen über. Sie brachten uns zum Fluss, wo wir in ein Boot gesetzt und in die Türkei gebracht wurden.“

Der Flüchtlingsrat berichtete, dass er dieses Vorgehen aufgrund wiederholter Beschwerden als verbreitete und immer mehr zunehmende Praxis der Behörden ansieht, die verhindern wollen, dass Flüchtlinge die Grenze überqueren. Er sieht darin einen Verstoß gegen nationales und internationales Recht:
„Ein gemeinsamer Nenner der vorliegenden Aussagen sind die willkürliche Inhaftierung der Flüchtlinge in Einrichtungen der Polizei, die erbärmlichen hygienischen Bedingungen dort, der Einsatz von Gewalt und schließlich der Transport der Flüchtlinge in Lieferwagen an das Flussufer des Evros, von wo sie auf überfüllten Booten auf die andere Seite des Flusses transportiert werden, wodurch ihr Leben unter Verletzung grundlegender Menschenrechte aufs Spiel gesetzt wird.
Diese Rückführungspraxis, die durch zahlreiche Zeugenaussagen des Flüchtlingsrates belegt wird, verletzt die wichtigsten internationalen Verpflichtungen des Landes, nämlich das Recht auf Nichtzurückweisung, das unter anderem durch die Genfer Konvention (1951) festgelegt wird, das Recht auf Asyl, das unter anderem durch die Charta der Grundrechte der EU gewährleistet wird sowie das absolute Verbot der Folter und des unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung einer Person auf griechischem Territorium unabhängig von deren Aufenthaltsstatus, gemäß Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtscharta.“ (7)

3. Vio.Me und die Zwangsversteigerungen

Der dritte Skandal, das Anwachsen der (teilweise elektronischen) Zwangsversteigerungen von Immobilien, besteht zunächst in der „normalen“ Umsetzung des dritten Memorandums. Die Eurogruppe und die EZB hatten bemängelt, dass die griechische Regierung zwei von 110 zugesagten „Reformmaßnahmen“ noch nicht umgesetzt habe: die Privatisierung des ehemaligen Athener Flughafengeländes Ellenikon und die Zwangsversteigerungen. Damit wurde begründet, dass die ausstehende Kredittranche über 5,7 Milliarden Euro zunächst nicht ausgezahlt. wird. (8)

Die griechische Regierung hat in ihrem sehnsüchtigen Blick auf das vermeintliche „Ende des Memorandums“ im Sommer 2018 eilfertig reagiert. Nachdem angesichts deutlichen politischen Widerstands die Versteigerungen nicht im gewünschten Umfang erfolgen konnten (Blockaden vor Gericht), haben gestern die elektronischen Versteigerungen mit zunächst 70 Immobilien wieder begonnen. Der Griechenland-Zeitung zufolge ist dies erst der Anfang: „Banken gehen davon aus, dass bis zum Jahresende zwischen 5.000 und 12.000 Immobilien unter den Hammer kommen werden. Betroffen sind säumige Zahler, ob Private oder Unternehmen, die über einen längeren Zeitraum ihre Kredite nicht mehr bedient haben.“ (9)

Während die von Arbeitern besetzte und betriebene Fabrik Vio.Me gerade dabei ist, die Feiern für ihr 5-jähriges Durchhalten am 25.02.2018 vorzubereiten, muss sie sich damit auseinandersetzen, dass auch auf dem Wege der Zwangsversteigerungen versucht wird, das Widerstands- und Selbstverwaltungsprojekt zu zerstören. Die Besetzer wären insofern Opfer einer griechischen Regierungspolitik, die versucht, alle Forderungen aus dem Memorandum umzusetzen.

Hintergrund sind die Altschulden des Altbesitzers Philkeram Johnson aus dem Jahre 2011, die seitdem nicht mehr bedient werden. Seit dieser Zeit haben alle Regierungen es abgelehnt, das verlassene Eigentum zu beschlagnahmen, womit sie auch eine Verantwortung für die säumigen Darlehen hätten übernehmen müssen.
Stattdessen sehen sich die Aktivisten von Vio.Me nun seit dem 11.01.2018 mit insgesamt 5 Terminen für Zwangsversteigerungen vor dem Gericht in Thessaloniki konfrontiert. 4 dieser Termine sind bereits verstrichen und immer war es gelungen, die Versteigerung durch Blockaden zu verhindern – z.T. trotz gewaltsamen Eingreifens der Bereitschaftspolizei. Möglich, dass sie nun doch noch Opfer der beginnenden Versteigerungsoffensive werden. (10)

In jedem Fall wird am Wochenende aber erst einmal der fünfjährige Erfolg gefeiert: Am Samstag mit einer Demonstration und einer Solidaritätsveranstaltung und am Sonntag mit einem Fest auf dem Firmengelände.

Quellen:
(1) http://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-pharmakonzern-novartis-soll-politiker-geschmiert-haben-a-1193742.html
(2) https://www.heise.de/tp/features/Zehn-Wahlurnen-im-Athener-Parlament-entscheiden-ueber-die-Zukunft-3974971.html
(3) http://www.efsyn.gr/arthro/i-novartis-paei-voyli
(4) https://www.transparency.de/korruptionsindizes/cpi-2017/cpi-ranking-2017/, https://www.transparency.de/korruptionsindizes/cpi-2016/cpi-ranking-2016/
(5) https://mezis.de/
Ein weiterer und aus eigener Berufserfahrung detailliert belegbarer – allerdings weniger bekannter – Aspekt ist z.B. in Deutschland der Verkauf statistischer Daten von Apotheken und Pharmagroßhändlern an Pharmahersteller. Sie liefern so das Material über die Verschreibungspraxis von Ärzten, die dann Grundlage des Besuchs und der „Überzeugungsarbeit“ von Pharmavertretern bei diesen Ärzten werden.
(6) http://www.gcr.gr/index.php/el/news/press-releases-announcements/item/790-anafores-gia-systimatikes-epanaproothiseis-ston-evro-apo-eksypiretoymenous-tou-esp
(7) zitiert nach: https://www.thepressproject.gr/article/124259/Marturies-gia-sustimatikes-epanaproothiseis-prosfugon-ston-Ebro
(8) https://www.griechenland.net/nachrichten/wirtschaft/23133-auszahlung-eines-5,7-milliarden-kredites-auf-m%C3%A4rz-verschoben, http://www.griechenland-blog.gr/2018/02/griechenlands-glaeubiger-fordern-mehr-zwangsversteigerungen/2141914/
(9) https://www.griechenland.net/nachrichten/politik/23135-immobilienversteigerungen-bleiben-weiter-umstritten
(10) https://www.thepressproject.gr/article/123047/Triti-mikri-niki-kata-tou-pleistiriasmou-tis-BIOME-video
https://www.thepressproject.gr/article/123583/Occupy—Resist—Produce-I-BIOME-oi-pleistiriasmoi-kai-i-autodiaxeirisi

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