
Von Ralf Kliche und Georg Brzoska
Dimitris Koufontinas könnte jederzeit sterben. Seit dem Amtsantritt der konservativen Nea Dimokratia im Sommer 2019 ist die Auseinandersetzung um ihn zum Paradebeispiel der Politik des „Law and Order“ geworden. Und täglich zeigt die Regierung, dass sie eine neue Ordnung durchsetzen will.
Mit dem Versprechen „Νόμος και τάξη“ (Gesetz und Ordnung) nach der vermeintlichen Anarchie der Syriza-Regierungszeit war Kyrios Mitsotakis zur Wahl angetreten. Die neue Regierung hat bereits Milliarden mehr für Rüstung ausgegeben und hunderte Polizisten zusätzlich angestellt. Jetzt soll es außerdem 1.000 Polizisten nur für Universitäten geben – nachdem seit der Obristendiktatur Polizisten die Universitäten gar nicht betreten durften. Die Polizeigewalt hat insgesamt zugenommen. Mit dem Argument der nötigen Covid-Schutzmaßnahmen werden linke Demonstrationen verboten bzw. zusammengeknüppelt.
Über Beispiele musste hier oft berichtet werden: Zuerst wurden die Demonstrationen zum Jahrestag der Erinnerung an den Widerstand gegen die Militärjunta am 17. November 2020 mit Verweis auf die Covid-Pandemie verboten und das Verbot wurde gewaltsam durchgesetzt. (1) Dann wurden am 6. Dezember 2020 die Gedenkmärsche zum 10. Jahrestag der Ermordung des Schülers Alexandros Grigoropoulos durch die Polizei genauso gewaltsam unterbunden. (2) Die Feierlichkeiten der orthodoxen Kirche zum Feiertag am 6. Januar wurden hingegen toleriert. (3)
Bereits vor der Wahl haben Mitsotakis und andere aus seiner Partei versprochen, dass sie an Koufontinas ein Exempel statuieren werden, wenn sie an die Macht kommen. Am meisten hatte sie aufgebracht, dass Koufontinas während der Regierungszeit von Syriza vier Mal ein Wochenende lang Hafturlaub hatte – ein angesichts der Haftdauer übliches Verfahren. Und die ND-Regierung hat ihr Versprechen wahr gemacht. Sie schuf Koufontinas-Gesetze und -regelungen, um diesem die Haftbedingungen möglichst schwer zu machen. Das gelang – u.a. indem sie ihre eigenen Gesetze so weit verbogen, dass unzählige Jurist*innen der Regierung jetzt illegales Verhalten vorwerfen.
Unter anderem wurde das früher bestehende elfköpfige Gremium, das über die Verlegung von Gefangenen entscheidet, von Mitsotakis nach seinem Wahlsieg aufgelöst, und zum Kopf der neuen fünfköpfigen Struktur KESF wurde Sofia Nikolaou, eine selbst erklärte Law and Order-Juristin und Journalistin des Privatsenders SKAI ernannt. Neben ihr sitzt ihr ehemaliger Angestellter Theodoros Panagiotou, der auch als Trauzeuge bei ihrer Heirat aufgetreten war, zwei Mitglieder wurden noch immer nicht berufen. So entscheidet Frau Nikoloaou verantwortlich und weitgehend alleine seit 7 Monaten über die Gefängnisverlegungen in Griechenland – natürlich auch über die von Koufontinas. Dies war der Auslöser des Hungerstreiks. (4)
Seit einer Woche demonstrieren in Athen (und anderen Städten) zumeist Tausende für Dimitris Koufontinas. Fast immer übte die Polizei bei diesen Demonstrationen unbegründet bzw. unverhältnismäßig Gewalt aus. Viele Demonstranten wurden verletzt bzw. verhaftet. Am Freitag war auch der Sohn von Koufontinas darunter. (5) Parallel dazu sperrt Facebook Seiten, die über Koufontinas berichten. (6) Facebook selbst legitimiert dies mit dem Verweis auf die Bekämpfung von Hass und Hetze im Netz.
Sobald Koufontinas stirbt, könnte sich alles noch zuspitzen. Er würde für manche Griech*innen zum Held des Kampfes gegen den repressiven Staat. Mit Sicherheit wäre sein Tod der Anlass für Gewaltakte. Bereits jetzt gab es mehrere Vorfälle. Letzten Sonntag wurden Brandsätze auf eine Polizeistation in Kaisariani geworfen und zwei Motorräder zerstört. In Zografou, dem Universitätsviertel von Athen, wurde am Montag ein Streifenwagen angezündet. Die Beamten im Fahrzeug konnten sich retten. In der Olof Palme-Straße in Athen bauten Anarchisten Straßensperren und kontrollierten die Ausweise der Insassen vorbeifahrender Fahrzeuge – so wollten sie zivile Polizeibeamte erkennen. Als herbeigerufene Polizeifahrzeug eintrafen, waren die Kontrolleure verschwunden. (7)
Nicht auszuschließen ist, dass es auch zur Bildung einer Nachfolgeorganisation der „Revolutionären Organisation 17. November“ kommt, zu der Koufontinas gehörte. Mancher Hardliner würde sich ob solch einer Entwicklung die Hände reiben, und einige sehen im derzeitigen Law and Order-Kurs der Regierung sogar eine Provokation, die solche Verhältnisse herstellen will: eine Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die „für den Staat sind“ und in diejenigen, die „für Koufontinas“ sind. Dann könnten noch stärkere Repressionen gerechtfertigt werden. Dies ist nicht zuletzt auch deshalb von Bedeutung, weil angesichts der mit der Corona-Krise wachsenden Verarmung in der Gesellschaft auch potentieller Widerstand wachsen wird. Einige sprechen schon von schlimmeren ökonomischen Verhältnissen als während der Zeit der Memoranden.
Wir sind nicht so weit – trotzdem: Der Begriff „Neue Ordnung“ (8) hat die schlimmste nur mögliche Konnotation. Er steht für den Terrorstaat, den die Nazis während der Besatzung Griechenlands errichteten.
Quellen
- https://griechenlandsoli.com/2020/11/16/verbot-der-erinnerung-an-den-widerstand-niea-diemokratia-in-der-tradition-der-junta/
- https://griechenlandsoli.com/2020/12/06/der-hass-der-macht-auf-die-blumen/
- https://griechenlandsoli.com/2021/01/06/die-unparteiische-polizei/#more-16750
- https://www.efsyn.gr/node/284482
- https://thepressproject.gr/164090-2/
- https://enough-is-enough14.org/2021/03/02/massive-zensur-durch-facebook-und-den-griechischen-staat-zur-bekaempfung-jeglicher-inhalte-im-zusammenhang-mit-dem-hunger-und-durststreikenden-dimitris-koufontinas/
- https://www.thetoc.gr/koinwnia/article/ragdaia-klimakosi-me-katadromikes-epitheseis-anarxikon—mploka-kata-astunomikon-se-zografou-kai-burona/?utm_term=Autofeed&utm_medium=Social&utm_source=Twitter#Echobox=1614678402
https://www.thetoc.gr/koinwnia/article/ragdaia-klimakosi-me-katadromikes-epitheseis-anarxikon—mploka-kata-astunomikon-se-zografou-kai-burona/?utm_term=Autofeed&utm_medium=Social&utm_source=Twitter#Echobox=1614678402 - Die »Neue Ordnung« in Griechenland 1941–1944″, Nikolas Pissis, Dimitris Karydas (Hg.) Berlin 2020 (Edition Romiosini), https://bibliothek.edition-romiosini.de/catalog/book/39
Griechenland: Der Geist der Junta-Vergangenheit kehrt zurück
Der Hungerstreik von Dimitris Koufontinas
https://de.crimethinc.com/2021/02/25/griechenland-der-geist-der-junta-vergangenheit-kehrt-zuruck-der-hungerstreik-von-dimitris-koufontinas
„Koufontinas zeigt uns das wahre Gesicht der Macht“
https://enough-is-enough14.org/2021/03/06/koufontinas-zeigt-uns-das-wahre-gesicht-der-macht/
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Breaking: Ein Antrag auf Verlegung von Dimitris #Koufontinas ist heute abgelehnt worden. Sein Anwalt befürchtet dass der Tod innerhalb der nächsten 24 Stunden eintreten könne. Sein Zustand sei sehr besorgniserregend. Demo heute in Athen 17:30 Uhr Syntagma.
Nicht vergessen Tag X: Sollte Dimitris sterben, dann 20 Uhr Hermannplatz/Berlin.
http://kontrpolioglnxrcdwwxfszih4pifyidfjgq4ktfdu6uh4nn35vjtuid.onion/2479/
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