WO | Literaturhaus Berlin (Kaminraum), Fasanenstr. 23, 10719 Berlin-Charlottenburg
WANN | Freitag, 25.11.2022, um 19:30 (Einlass ab 19:00)
Dr. Günter Seufert, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, im Gespräch mit dem Journalisten Georgios Pappas, Griechisches Fernsehen ΕRT
Aus der Ankündigung
Europa und der Westen blicken mit Entsetzen auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der die Grenzen verschieben will und dafür hunderttausende Menschenopfer verlangt. Gleichzeitig scheint der westlichen Aufmerksamkeit zu entgehen, dass die Türkei in der Ägäis und im östlichen Mittelmeerraum die territoriale Integrität Griechenlands
und der Republik Zypern in Frage stellt. Seit Jahren überfliegen türkische Militärjets griechische Inseln, türkische Forschungsschiffe bohren in griechischen und zypriotischen Gewässern nach Gas, Flüchtlinge werden über die Grenzen geschleust um Athen, Nikosia und die EU zu erpressen.
Neuerdings stellt Ankara sogar den Vertrag von Lausanne in Frage, der die Grenzen der heutigen Türkei festschreibt. Der türkische Staatspräsident droht offen mit einer Invasion auf den griechischen Inseln in der Ostägäis.
Ist die Kriegsgefahr in der Ägäis real oder sollen die Drohungen Erdogans nur von den inneren Problemen der Türkei ablenken und ihm helfen, die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen?
Ist die Türkei mit ihrer ambivalenten Haltung gegenüber Russland noch ein verlässlicher Partner des Westens?
Was können Griechenland und die Republik Zypern tun, um die Spannungen zu mildern?
Wollen und können die EU und die USA den neo-osmanischen Ambitionen des türkischen Präsidenten etwas entgegensetzen?
Dr. Günter Seufert studierte Germanistik und Soziologie an der Universität Bremen. Heute leitet er das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, wo er seit 2010 tätig ist. Von 2001-2004 und 2007-2010 war er als freier Autor und Journalist in Istanbul tätig. Von 2004-2007 unterrichtete er als Visiting Associate Professor an der University of Cyprus in Nikosia.
Georgios Pappas ist Deutschland-Korrespondent beim ERT in GR , bei RIK-Zyprens und Korrespondent der Zeitung „TA NEA“. Er ist amtierender Vorsitzender des Vereins der Ausländischen Presse (VAP) in Berlin. Er studierte Politikwissenschaft in Athen. Von 2003-2009 war er Nachrichtenredakteur und Moderator beim Griechischen Programm der Deutschen Welle (DW) in Bonn.
Der Eintritt ist frei. Die Veranstaltung findet auf Deutsch statt.
Veranstalter
Exantas Berlin e.V.
Liebe Freund*innen,
in der Einladung zum Kamingespräch heißt es u. a.: „Flüchtlinge werden
über die Grenzen geschleust um Athen, Nikosia und die EU zu erpressen.“
Es trifft zu, dass dies in Einzelfällen vorkommt. Aber diese Darstellung
verkennt erstens völlig die tatsächlichen Verhältnisse, ist zweitens das
Bild, das die nationalistische reaktionäre griechische Regierung
zeichnet, um von ihren Verbrechen gegen Geflüchtete mit den Dutzenden
von Toten in jedem Monat abzulenken.
Festzuhalten ist, dass der türkische Staat niemanden zwingt, sich zur
griechischen Grenze zu begeben, um von dort nach Griechenland zu
gelangen, weder am Evros-Fluss noch übers Meer auf die ostgriechischen
Inseln. Die Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, flüchten
aus Ländern, in denen sie entweder Krieg und Verfolgung ausgesetzt sind
oder ihr Überleben nicht mehr sichern können. Die Türkei ist für sie
Transitland. Daß sie dann auf verbrecherische Schleuser angewiesen sind,
liegt an dem europäischen Grenzregime. Es ist ziemlich einfach: Gäbe es
freie Passage oder gar offene Grenzen, müßte niemand sich eines
Schleusers bedienen und für diesen tausende von Dollars oder Euro zahlen.
Europa verschärft seine Abschottungspolitik – jedenfalls, wenn es sich
nicht um christliche Weiße wie z. B. Ukrainer*innen handelt. Gegen das
Völkerrecht und insbesondere die Genfer Konvention wird den Geflüchteten
keinerlei Gelegenheit gegeben, ihr Asylbegehren zu äußern; stattdessen
werden sie in die Türkei bzw. türkische Gewässer zurückverfrachtet (sog.
push-backs) und dort ihrem Schicksal überlassen. Vorher werden sie in
der Regel von der griechischen Polizei, Militär, Küstenwache oder
bewaffneten Banden, die mit den Staatsorganen zusammenarbeiten,
misshandelt, gefoltert, aller ihrer Habe beraubt und nackt oder
halbnackt in die Türkei abgeschoben oder auf nicht motorisierten
Rettungsflößen mitten im Meer ausgesetzt.
Dies passiert jedes Jahr in zehntausenden von Fällen und ist besten
dokumentiert. Daher streitet die griechische Regierung heute die
push-backs nicht mehr rundweg ab, sondern erklärt, dass sie ihre bzw.
die europäischen Grenzen verteidige. Mit ihrer Rhetorik stilisiert sie
die Geflüchteten zu einer Bedrohung, gegen die es sich zu wehren gelte.
Diejenigen, die nach Europa wollten, seien eine Waffe in der Hand der
Türkei. Dass es sich dabei um Menschen in höchster Not handelt – wer
würde sonst solche Gefahren auf sich nehmen –, wird natürlich
verschwiegen. Dass diese Menschen Rechte haben, die aus dem Völkerrecht
resultieren und die von Europa und Griechenland hunderttausendfach und
systematisch missachtet werden, ebenfalls.
Noch ein Wort zu dem widerlichen EU-Türkei-Abkommen vom 18.03.16, das
die Türkei „ständig bricht“. Hier ist auch eine Frage, wer mit dem
Vertragsbruch begonnen hat. Es sei daran erinnert, dass es für die
Türkei bei Abschluss des Abkommens essentiell war, dass erstens die 6
Mrd. Hilfsgelder für die von der Türkei aufgenommenen Geflüchteten bis
Ende 2018 gezahlt werden, zweitens die EU zehntausende von syrischen
Geflüchteten aus der Türkei aufnimmt und vor allem auch bis Ende 2016
die Visumpflicht für Türk*innen in der EU entfällt.
Nichts davon hat die EU eingehalten. Sie hat nicht die vereinbarten
Gelder gezahlt; sie hat nicht das versprochene Kontingent von
Geflüchteten aufgenommen; bis heute gibt es in der EU keine
Visumfreiheit für Türk*innen.
Hier einige Beispiele aus der Vereinbarung (Zitate,
https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18/eu-turkey-statement/):
„Migranten, die auf den griechischen Inseln ankommen, werden
ordnungsgemäß registriert, und alle Asylanträge werden von den
griechischen Behörden gemäß der Asylverfahrensrichtlinie auf
Einzelfallbasis bearbeitet, in Zusammenarbeit mit dem UNHCR.“
„Für jeden von den griechischen Inseln in die Türkei rückgeführten Syrer
wird ein anderer Syrer aus der Türkei in der EU neu angesiedelt, wobei
die VN-Kriterien der Schutzbedürftigkeit berücksichtigt werden.“
„Der Fahrplan für die Visaliberalisierung wird hinsichtlich aller
beteiligten Mitgliedstaaten beschleunigt vollzogen, damit die
Visumpflicht für türkische Staatsangehörige spätestens Ende Juni 2016
aufgehoben werden kann, sofern alle Benchmarks erfüllt wurden.“
Ich will klarstellen, dass ich keinerlei Sympathien für die faschistoide
türkische Regierung unter Erdogan hege. Die Verfolgung von
Andersdenkenden und Kurd*innen ist ein unsägliches Verbrechen, ebenso
wie die Kriege in Nordsyrien und dem Nordirak. Die Unterstützung der
Türkei für den ISIS ist bekannt.
Selbstverständlich weiß ich auch, wie aggressiv sich die Türkei
Griechenland gegenüber gebärdet. All das ist mit nichts zu rechtfertigen.
Aber niemand soll auf der anderen Seite so tun, als trage die Türkei die
alleinige Verantwortung für die Spannungen. Soweit es die Flüchtlinge
betrifft, kam es der Türkei natürlich gelegen, dass so viele Menschen
nach Europa flüchten wollen. So konnte sieAnfang März 2020 ihre Drohung
wahrmachen, die Grenzen zu öffnen, um die Geflüchteten durchzulassen.
Lange genug hatte sie Europa gewarnt, es solle seine Verpflichtungen aus
dem Abkommen von 2016 erfüllen.
Auf die weiteren Probleme, die zu diesen Spannungen geführt haben und
führen, kann ich hier nicht weiter eingehen. Ich sehe eine „Hauptschuld“
bei der Türkei, kann aber andererseits nicht verkennen, dass die Drohung
Griechenlands, einseitig seine Hoheitsgewässer auf 10 oder gar 12
Seemeilen auszudehnen und so die Ägäis mehr oder weniger zu einem
griechischen Binnengewässer zu machen, zumindest nicht hilfreich ist für
eine mögliche Deeskalation – an der m. E. auch die griechische Regierung
im Hinblick auf die Wahlen im kommenden Jahr kein Interesse hat.
Mit solidarischen Grüßen
Achim Rollhäuser, z. Zt. Athen
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