Pylos-Verbrechen: Etappensieg der Gerechtigkeit

Die Freude der Freigelassenen

Es wurde als großer Sieg empfunden: Die neun Ägypter wurden am 21.5.2024 als freie Menschen vom Gericht entlassen. Sie werden für die elf Monate, die sie unschuldig im Gefängnis verbringen mussten, eine Entschädigung erhalten. Ihre Freude und die Freude der anwesenden Verwandten und Freunde im Gerichtssaal war nach der Verkündigung der Richterentscheidung riesig. Es ist ein Skandal, dass überhaupt ein Verfahren gegen diese Männer angestrengt wurde. Sie wurden nur Stunden nach dem Untergang des Bootes mit fadenscheinigen Argumenten verhaftet. Weil sie Wasser und Essen an andere auf dem Boot verteilt haben sollen, wurden sie angeklagt, Schlepper gewesen zu sein und sogar verantwortlich für das Sinken des Bootes. Das Boot war mit 750 Passagieren völlig überlastet, es war für jeden Laien sichtbar, dass es jederzeit sinken konnte. Obwohl die griechische Küstenwache nach allen Regeln und dem Gebot der Menschlichkeit dazu verpflichtet gewesen wäre, half sie den Menschen auf der Flucht 15 Stunden lang keinesfalls. Sie war nur daran interessiert, dass das Boot die griechische „Search and Rescue Zone“, das Gebiet, in der eben sie hätte retten müssen, verließen. Deshalb zog das Boot der Küstenwache sie dann mit einem Seil, was zum Untergang führte.
Es gibt in griechischen Gefängnissen mehr als 2000 Menschen, die mit ähnlichen haarsträubenden Begründungen, warum sie Schlepper seien, langjährige Hafstrafen verbüßen.

Im Hintergrund: Bestraft sie für das Pylos-Verbrechen; Mann vorne in der Mitte: Küstenwache; Mann rechts: griechische Regierung.  Bild: Yorgos KonstantinouImagistan

Dass dieses Verfahren überhaupt angestrengt wurde und die neun dadurch elf Monate ihres Lebens im Gefängnis verloren, ist auch deshalb ein Skandal, weil die Staatanwaltschaft die Tatsache, dass das Boot sich gar nicht in griechischen Gewässern befand, versteckt hat. Diesen Umstand monierte die vorsitzende Richterin während des Gerichtsverfahrens. In den Gerichtsakten ist an sehr vielen Stellen davon die Rede, dass das Boot sich 47 Meilen von der griechischen 12 Meilen-Küstenzone  entfernt aufhielt. In der Anklageschrift wurde das allerdings verschwiegen. Genau aus diesem Grunde ließen die zwei Richter und die vorsitzende Richterin die neun heute frei: Das Gericht ist überhaupt nicht zuständig, weil das, weswegen sie angeklagt wurden, nicht auf griechischem Territorium passiert sein kann.
Schon eineinhalb Stunden vor Beginn des Gerichtstermins begann vor dem Gerichtsgebäude eine Kundgebung verschiedener politischer Organisationen und Gewerkschaften. Darunter Gewerkschaften, vor allem die kommunistische Gewerkschaft PAME, die „Neue Linke“, die sich wegen des neuen kaum linken Vorsitzenden von SYRIZA von dieser Partei abgespalten hat, KEERFA, eine linksradikale antifaschistische antirassisische Bewegung und eine lokale anarchistiche Gruppe. Nach dem Urteilsspruch demonstrierten Teilnehmer der Kundgebung und Prozessbeobachter durch die Stadt. Es waren immerhin ca. 300 Menschen – für die 70.000 Einwohnerstadt Kalamata eine große Menge.
Die dreieeinhalb Stunden Gerichtsverfahren entsprachen letztlich nicht der Vorstellung von einer staatstreuen, autoritären Justiz. Zuächst war es schwer, überhaupt ins Gerichtsgebäude zu kommen. Die Straße vor dem Gebäude war komplett abgesperrt. Es war nicht leicht, die Polizisten davon zu überzeugen, dass es um ein öffentliches Gerichtsverfahren ging, man also freien Zutritt haben sollte. Im Laufe des Vormittags verwandelte sich das Ganze aber in sein Gegenteil. Zunächst war viele Male verkündet worden, dass jeder Zuschauer, der keinen der nur ca. 30 Sitzplätze ergattern konnte, den Gerichtssaal verlassen müsse. Letzendlich glich das Geschehen dann aber eher einer lockeren Informationsveranstaltung. Ständig bewegten Menschen sich zwischen dem Bereich, der eigentlich nur den Verteidiger-Teams vorbehalten sein sollte, dem Bereich für die Zuschauer und dem Foyer hin und her. Auch erschienen am späten Vormittag der Fraktionsvorsitzende der „Neuen Linken“ Alexis Xaritsis und Thodoris Dritsas, unter Tsipras Minister für Schifffahrt und Inselpolitik, heute auch bei der „Neuen Linken“, im Gerichtssaal. Dritsas gilt als einer der wichtigsten Macher der Geflüchteten-freundlichen Politik des Jahres 2015. Auch diese beiden standen dann im Bereich der Verteidiger-Teams.

„Die Gerechtigkeit darf nicht versinken! – Offene Grenzen für Geflüchtete! – Antifaschistische Initiative Kalamatas“

Dass das Gericht in Kalamata die Ägypter freisprach, ist ein wichtiger Sieg der Gerechtigkeit. Waren sie doch die Sündenböcke, die von der Verantwortung der Küstenwache ablenken sollten.
Es ist aber nur ein Etappensieg, denn die Frage, wer dafür verantwortlich ist, dass 600 Menschen starben, ist noch nicht geklärt. Es gibt ein anderes Gericht, das dieser Frage nachgehen muss. Das ist das Marinegericht von Piräus. Im September 2023 reichten 53 Überlebende des Schiffbruchs bei diesem Gericht eine Beschwerde ein, in der sie die griechischen Behörden für den Schiffbruch verantwortlich machten. Sie werden von fünf griechischen Anwaltsorganisationen vertreten, die sehr viel Erfahrung mit der Verteidigung von Geflüchteten haben. Es ist zu befürchten, dass dieses Gericht weniger der Gerechtigkeit verpflichtet sein wird, als das Landgericht von Kalamata am 21.5.2024. Wir werden sehen.

Diese Recherche wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Geflüchtete., Griechische Justiz, Justiz, Küstenwache, Pushbacks, Pylos, Widerstand veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Pylos-Verbrechen: Etappensieg der Gerechtigkeit

  1. baf1887 schreibt:

    Bitterer Sieg für Schiffbrüchige

    Griechenland wollte Geflüchtete für Katastrophe vor Pylos verantwortlich machen. Justiz erklärt sich für »nicht zuständig«

    https://www.jungewelt.de/artikel/475874.eu-grenzregime-bitterer-sieg-f%C3%BCr-schiffbr%C3%BCchige.html

    Like

Hinterlasse einen Kommentar