Covid19: dramatisch sich verschlechternde Situation

Entwicklung der täglichen Neuinfektionen in Griechenland (4)

Von Ralf Kliche.
Am Samstag, 05. November 2020 hat in Griechenland der zweite Lockdown für das Land begonnen, zunächst bis zum Ende des Monats. Er gilt für ganz Griechenland und ist wie bereits der erste Lockdown von anderem Kaliber als die Maßnahmen, die in Deutschland euphemistisch auch als Lockdown bezeichnet werden: Wer das Haus verlassen möchte, muss dies vorher über eine SMS anmelden, überall – innen wie außen – ist das Tragen einer Maske verpflichtend, Geschäfte müssen mit Ausnahme von Supermärkten und Apotheken weitgehend schließen und das Reisen im Land wird teilweise verboten. Einziger Unterschied zum Frühjahr: Grundschulen und Kindergärten bleiben offen, nur weiterführende Schulen werden geschlossen. Die Regierung hat für die erlaubten Bewegungen außerhalb des eigenen Haushalts umfangreiche Antragsformulare elektronisch bereitgestellt. (1)

Dieser Kursschwenk der Regierung nach zahlreichen kurzfristigen, widersprüchlichen und wirkungslosen Regelungen in den letzten Wochen beruht auf einem dramatisch angestiegenen Infektionsgeschehen seit Ende Oktober. Negative Rekorde werden derzeit fast täglich gebrochen. Am 08.11. wurden folgende Tageszahlen bekannt gegeben: 1.914 bestätigte Neuinfektionen, 35 Tote und 228 intubierte Patienten. (2) Eine Häufung erkannter Fälle findet auch hier in „Hot Spots“ statt. Zuletzt wurden mehrere Fälle aus Pflegeheimen in Thessaloniki und Ioannina sowie im Gefängnis Diavata von Thessaloniki bekannt. (3) Die Anzahl der Intubierten hat sich gegenüber der ersten Welle verdoppelt (von 100 auf über 200)

Entwicklung der täglichen Neuinfektionen in Griechenland (4)

Die medizinischen Experten und Berater der Regierung hatten die jetzt beschlossenen Maßnahmen schon vorher gefordert, Mitsotakis hatte aber bislang eine Umsetzung verweigert.

Aus dem Gesundheitssystem selbst kommen Alarmmeldungen, dass die medizinischen Kapazitäten nahezu erschöpft seien, auch weil die Belastungen höher sind als während der ersten Welle und kaum zusätzliche Kapazitäten geschaffen wurden. Die Erkrankten aus dem Heim in Ioannina mussten in andere Regionen gebracht werden, weil die Kapazitäten der Universitätsklinik am Ort erschöpft sind.

Die Krankenhausärzte in der nordgriechischen Region Serres haben in einer öffentlichen Erklärung ihre Lage geschildert. Dort heißt es, dass im örtlichen Krankenhaus derzeit auf 6 Stationen 70 Covic-19 Patienten behandelt werden, für die pro Schicht aber nur 3 Ärzte zur Verfügung stehen. 7 Ärzte sind selbst erkrankt. Ergebnis des Besuchs der regionalen Gesundheitsbehörden vor 10 Tagen war, dass 13 regionale Kliniken und 2 Gesundheitszentren geschlossen wurden, um 7 Ärzte zur Entlastung nach Serres zu schicken. Auch in den Nicht-Covid-Bereichen und in der Pflege steht kein ausreichendes Personal zur Verfügung. Der Betrieb der regulären medizinischen Außenstellen wurde eingestellt, nicht zwingende Operationen verschoben, Pflegekräfte von anderen Klinken abgezogen, derzeit werden 10-15 Patienten von einer Pflegekraft betreut. (5) Die Forderungen der Ärzte laufen darauf hinaus, schnellstens alle irgendwie verfügbaren Personen mit medizinischen Kenntnissen einzustellen und insbesondere das privat organisierte Gesundheitswesen einzubinden (Fachärzte, Intensivbetten, Standard-Operationen, Nutzung von CT-Kapazitäten etc.).

Aus Sicht der SYRIZA-Opposition trägt die Regierung Mitsotakis die Verantwortung für den zweiten Lockdown, letztlich für die Ausbreitung des Virus und die ungenügende Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Sie habe durch Untätigkeit in den vergangenen Monaten Griechenland in die aktuelle Lage gebracht. So äußerte sich Tsipras am vergangenen Freitag auf einer Pressekonferenz, wo er Mitsotakis vorwarf, der Bevölkerung ein Bild vermeintlicher Sicherheit vorgespiegelt zu haben, ein unangemessenes Bild individueller Verantwortung für die Verbreitung des Virus gezeichnet zu haben und jungen Menschen in den Fokus genommen zu haben. (6) Zu den sachlichen Versäumnissen, die Tsipras kritisierte zählte er: dass

  1. es keine neuen Festanstellungen für Ärzte und Krankenschwestern in den letzten Monaten gab
  2. keine neuen Intensivbetten geschaffen wurden
  3. es keine Massenverschreibungen kostenloser Tests gab (die Bürger sogar häufig die Kosten von 80 – 100 Euro selbst tragen müssen)
  4. keine Schutzmaßnahmen an Schulen geschaffen und Klassen nicht verkleinert wurden.

So korrekt Tsipras hier die Fakten benennt, so wenig sollte man allerdings auch die ökonomische Situation des Landes aus dem Auge verlieren. 2017 war SYRIZA selbst damit gescheitert, 3000 zusätzliche Ärzte und Pfleger einzustellen. Angesichts der schlechten finanziellen Ausstattung konnten nur wenige der ca. 16.000 Ärzte zur Rückkehr nach Griechenland bewegt werden, die zwischen 2010 und 2016 zur Arbeit ins europäische Ausland migriert waren.

Auslöser der Debatte war eine Frage zur gesundheitlichen Gefährdung in den öffentlichen Bussen. Sie sind ein Beispiel für Absurditäten und Widersprüchlichkeiten im griechischen Umgang mit Corona – dies ist uns allerdings aus Deutschland auch gut bekannt (Aswestopoulos ergänzt dies in seinem lesenswerten und unverändert aktuellen Artikel aus dem September noch um den Aspekt des Klientelismus. (7)) So ist in den Bussen jeder zweite Sitzplatz gesperrt, gleichzeitig schreitet aber auch niemand ein, wenn infolgedessen die Fahrgäste dicht an dicht im Bus stehen. Jetzt war die Anweisung ausgegeben worden, Busse dürften nur 65% der möglichen Fahrgäste befördern. Versuche der Regierung durch zusätzliche Busse in Athen die Anzahl der Fahrgäste je Bus zu reduzieren, scheinen die Lage nicht substantiell geändert zu haben. (8)

Ein weiterer zentraler Kritikpunkt von SYRIZA an der Regierungspolitik ist der Vorwurf, nicht gegen die ökonomischen Folgen der Pandemie zu schützen. Gerade erst von der Statistikbehörde ELSTAT veröffentlichte Zahlen belegen die massiven Verluste im Rahmen des ersten Lockdowns (9). Es gab nicht nur einen Umsatzverlust der Unternehmen von ca. 5 Mrd. Euro, das entspricht einem Rückgang im Verhältnis zum Vorjahr um 21,5%. Auch die ausgezahlten Löhne sind in diesem Jahr um 1,3 Mrd. Euro gesunken (von 17,1 auf 15,8 Mrd.). Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist so um 314 Euro gesunken und es werde durch den neuen Lockdown noch einmal um weitere 234 Euro sinken. In den besonders betroffenen Sektoren, Gastronomie und Tourismus, beläuft sich die Senkung der Lohnsumme auf 70%. Jeder weitere Monat Lockdown wird laut Prognose weitere 50.000 Arbeitsplätze kosten, in den Monaten März bis Juni waren bereits 100.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Die Gewerkschaften erwarten bis zum Jahresende einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 21,2%.

Für staatliche Maßnahmen zur Abfederung der Krisenfolgen wurden 3,3 Mrd. Euro aufgewendet, was allseits als völlig unzureichend angesehen wird. Für abhängig Beschäftigte ist die Lage besonders schwer, wobei die große Bedeutung prekärer und schlecht bezahlter (Teilzeit-) Arbeitsverhältnisse in Griechenland hinzukommt. Bis zum Juni dieses Jahres gab es eine Einmalzahlung von 800 Euro und die Übernahme von Versicherungsbeträgen für temporär freigestellte Beschäftigte, ebenso teilweise Erleichterungen bei Zahlungsverpflichtungen (Steuer, Kredittilgungen,…). Im Juni wurde dann ein an das deutsche Modell angelehntes Kurzarbeitergeld eingeführt – bis zum Ende des Jahres 2020. Danach können Unternehmen ihre (Vollzeit-!!) Beschäftigten bis zu 50% freistellen. Diese erhalten dann 60% ihres Einkommens und die Sozialversicherungsbeiträge vom Staat. Allerdings ist dieses Modell an zahlreiche Voraussetzungen geknüpft. Z.B. muss das Unternehmen einen Umsatzrückgang von mindestens 20% zum Vorjahr nachweisen und sie dürfen niemanden entlassen. Außerdem darf ein Beschäftigter nach der Kürzung nicht mehr als 555 Euro netto verdienen. Freiberufler erhalten einmalig einen Zuschuss von 534 Euro. (10)

Mit dem neuen Lockdown soll es zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen geben, die sich für das Gesamtjahr dann auf 5 Mrd. Euro belaufen sollen, teilweise als Kredit, teilweise als Zuschuss. In Unternehmen, die auf staatliche Anweisung geschlossen werden, soll den Beschäftigten ein Verdienstausfall zwischen 600 und 800 Euro erstattet werden. (11)

Ein letzter Kritikpunkt von SYRIZA soll abschießend extra erwähnt werden: Mit der weitgehend unbeachteten Durchsetzung eines neuen (auch privaten) Insolvenzrechts hat die Regierung einen Weg verbunden, den bisherigen Schutz des ersten Wohnsitzes auszuhebeln und Zwangsversteigerungen durch die Banken zu vereinfachen. Das neue Gesetz wird zum 01.01.2021 in Kraft treten und die Mechanismen des sogenannten Katseli-Gesetzes ablösen. Unter dem beschönigenden Motto einer „zweiten Chance für jeden“ soll es Schuldnern die Möglichkeit geben, Schulden zu streichen. Zumindest bei Immobilienkrediten kann nicht nur der Schuldner sondern auch Gläubiger einen Insolvenzantrag bei nicht bedienten Krediten stellen. Im Rahmen des Verfahrens wird nicht nur die völlige Transparenz der Lebensbedingungen des Schuldners verlangt, er muss nicht nur den Teil seines Einkommens abgeben, der die Lebenshaltungskosten übersteigt. Sein erster Wohnsitz geht auch in die Hände der Gläubiger-Banken über. Wenn dem Schuldner keine gütliche Einigung gelingt, kann er nur noch beim zuständigen Ministerium Wohngeld beantragen (max. 210 Euro monatlich je Haushalt). Ein solches Modell hat Vorteile für die Banken, denen so ein leichterer Zugriff auf das Wohneigentum säumiger Zahler möglich ist, und es hat Vorteile, weil sich die Justiz nicht mehr mit der rechtlichen Prüfung von Zwangsräumungen befassen muss – zuständig wird eine elektronische Plattform bei einem staatlichen „Büro für private Schulden“ sein. (12) Ob das Verfahren auch Vorteile für die Schuldner hat, wird sich längerfristig zeigen, zunächst einmal verlieren sie Schutz und Sicherheit für ihren Erstwohnsitz, an deren Stelle Abhängigkeiten von der staatlichen Verwaltung treten,

Quellen / Anmerkungen:

  1. https://forma.gov.gr/ , Einzelheiten finden sich in dem hier
    verlinkten Artikel von Aswestopoulos
    ,
  2. https://www.keeptalkinggreece.com/2020/11/08/greece-coronavirus-deaths-record-cases-nov-8/
  3. https://thepressproject.gr/thessaloniki-o-covid-19-chtypise-akoma-ena-girokomeio-sta-65-ta-krousmata-stis-fylakes-diavaton/, https://www.cnn.gr/ellada/story/241855/koronoios-65-kroysmata-stis-fylakes-diavaton-sti-thessaloniki-i-nikolaoy
  4. nach: https://en.wikipedia.org/wiki/COVID-19_pandemic_in_Greece
  5. https://www.efsyn.gr/node/267553
  6. https://thepressproject.gr/tsipras-o-kos-mitsotakis-vazei-louketo-sti-chora-gia-2i-fora-kai-synechizei-na-paristanei-ton-sotira/ Einen knappen Überblick der Positionen der einzelnen Parteien in der Debatte liefert die Griechenland-Zeitung: https://www.griechenland.net/nachrichten/politik/28201-regierung-zieht-die-notbremse-%E2%80%93-opposition-%C3%BCbt-heftige-kritik
  7. https://www.griechenland.net/nachrichten/politik/28201-regierung-zieht-die-notbremse-%E2%80%93-opposition-%C3%BCbt-heftige-kritik
  8. https://www.ekathimerini.com/258788/gallery/ekathimerini/in-images/new-measures-aim-to-make-public-transport-safer-from-virus
  9. https://www.efsyn.gr/oikonomia/elliniki-oikonomia/267759_nea-syntribi-se-misthoys-tziroys-kai-katanalosi
  10. https://www.gtai.de/gtai-de/trade/specials/special/griechenland/covid-19-massnahmen-der-regierung-235904
  11. https://www.efsyn.gr/oikonomia/elliniki-oikonomia/267641_pos-enishyontai-epiheiriseis-kai-ergazomenoi-poy-plittontai
  12. https://www.capital.gr/oikonomia/3407047/poies-allages-tha-ferei-o-neos-ptoxeutikos-nomos, https://www.kathimerini.gr/economy/561128467/se-ischy-o-neos-ptocheytikos-apo-to-2021/ , https://www.insider.gr/apopseis/vlogs/148386/o-neos-ptoheytikos-nomos-me-apla-logia
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Eine Antwort zu Covid19: dramatisch sich verschlechternde Situation

  1. Mirko Broll schreibt:

    Vielen Dank für die wieder einmal informative Zusammenstellung.
    Übrigens sind von den 50 neuen ICU-Betten im auf Covid-10-Fälle spezialisierten Sotiria Krankenhaus, deren Schaffung von der Regierung vor einigen Wochen stolz präsentiert wurde, nur 12 in Betrieb, weil das Personal zu deren Bedienung fehlt.
    Siehe hier: https://www.thenationalherald.com/greece_politics/arthro/iliopoulos_greek_national_health_system_has_reached_its_limits-1128999/

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