Moria-Prozess: tiefster Keller einer rassistischen Justiz

Von Lukas Stamellos, omniatv.com 17.3.2024
Staatsanwältin Kazabaka: Drei Stockwerke unter dem institutionellen Rassismus
Institutioneller Rassismus in der griechischen Justiz ist eine Selbstverständlichkeit. Die Absprachen zwischen der Vorsitzenden des Berufungsgerichts, Glykeria Karanastasi, und der Staatsanwältin Amalia Kazabakai liegen jedoch noch tiefer als dieser Rahmen.
Der Prozess vor dem Berufungsgericht von Mytilene gegen den einen des Brandes von Moria beschuldigten erwachsenen Angeklagten hat eine Falltür geöffnet, die in die tiefsten Keller einer unkontrollierten Justiz führt.
Das zugegebenermaßen reizvolle Gebäude der Gerichte von Mytilene hat eine solche ästhetische Distanz zu seinem Inhalt, nämlich den Prozesstragödien, die sich darin abspielen, dass es an die Regie von Stanley Kubrick erinnert: eine ruhige, harmonische Musik, die die rohesten Gewaltszenen überzieht. Die Architektur des Gebäudes spielt hier die Rolle der Musik, und die Gewalt, die sich über Jahre der Inhaftierung erstreckt, tanzt zwischen dem rohen institutionellen Rassismus der Justiz und den gepanzerten Instrumenten der Exekutive.

Als wir uns dem Gerichtssaal näherten, waren die Auspizien bereits unheilvoll: Die Staatsanwältin sollte Amalia Kazabaka sein, dieselbe, die sich in einem anderen Fall durch ihren offenbar direkten und ständigen Kontakt mit dem alltäglichen Leben dazu veranlasst sah, zu einem Flüchtling, der als „Schleuser“ angeklagt war, den unnachahmlichen Satz zu sagen: „Und warum haben Sie nicht ein Flugzeug genommen, um legal hierher zu kommen?“

Obwohl Staatsanwälte keine Richter sind, hat die besondere Rolle der Staatsanwaltschaft im griechischen Rechtssystem, die von einer vorherbestimmten, unkontrollierten und fast religiösen Autorität umgeben ist, zwangsläufig Einfluss auf den Ausgang eines Verfahrens.ii Dies gilt umso mehr für ein Schwurgericht oder ein Berufungsgericht, das sich aus drei Berufsrichtern und vier Schöffen zusammensetzt. Es sei denn, eine oder ein relativ gewissenhafte*r Vorsitzende*r leitet die Verhandlung.

Dies war beim Berufungsgericht von Mytilene, das am Montag, dem 4. März 2024, tagte, nicht der Fall.

Die Vorsitzende des Berufungsgerichts gab bereits in den am selben Tag vorher verhandelten Fällen Beispiele für die von ihr angewandte Taktik des „Tennis mit der Staatsanwältin“. Diese Taktik bestand darin, der Staatsanwältin stillschweigend das Privileg einzuräumen, das Verfahren auf von ihr gewählte Punkte zu lenken, die diese auch immer wieder hervorhob, so dass die vier Schöffen unsichtbar geleitet wurden und es keine „Überraschungen“ bei ihrer Abstimmung gab.

Die beiden beisitzenden Richter Theodora Polymenopoulou und Vassilios Kateris waren zwar anwesend, spielten jedoch keine besonders aktive Rolle im Verfahren. Nur Th. Polymenopoulou meldete sich an einigen Stellen zu Wort, vor allem um den „Schlussfolgerungen“ der Staatsanwältin Kazabaka einen seriösen Anstrich zu geben und den Anschein eines korrekten Verfahrens zu erwecken, mit der Taktik, selektiv Einzelheiten herauszugreifen und aus dem Zusammenhang zu reißen.

Diese Gruppe von Gerichtspersoneniii flankierte die vier Schöffen bei den Beratungen des Gerichts, wenn sich das Gericht zurückzog, um entweder über einzelne Anträge oder über die endgültige Schuld oder Unschuld der Angeklagten zu entscheiden. Die Staatsanwältin Amalia Kazabaka machte keinen Versuch, die Tatsache zu verbergen, dass sie an den Beratungen des Gerichts teilnahm, was nach der Strafprozessordnung verboten ist. Es ist jedoch sicher, dass sie im unwahrscheinlichen Fall eines Disziplinarverfahrens behaupten wird, dass sie nicht an den Beratungen teilgenommen hat. Das wird sicherlich auch von ihren Vorgesetzten akzeptiert werden, da ja eine Staatsanwältin nicht lügen kann.

Alles in allem würde die Arbeitsweise dieses Gerichts einem Beobachter, der sich fragte, ob er das viel gepriesene „Vertrauen in die griechische Justiz“ setzen kann, wenig Vertrauen einflößen. Auch wenn ich nicht von solchen Dilemmata geplagt werde, kann ich nicht verhehlen, dass mich das Bild, das sich mir bot, überrascht hat, verglichen mit dem üblichen Anschein von Seriosität, den die Gerichte in Athen mit einer gewissen Sorgfalt zu wahren versuchen. Natürlich haben Gerichte im Allgemeinen eine inhärente Theatralik, die auf der Form der antiken Tragödie beruht und Elemente der christlichen Liturgie enthält. In diesem Fall hatten wir eine Ausnahme, die eher einer Aufführung auf einem lokalen Jahrmarkt glich.

Der kostümierte – unbekannt, woraus er seine Autorität schöpfte – Typ mit dem Spitznamen „der Maestro“, der Zeugen aufrief, dem Gericht Dokumente übergab, die Schöffen und die Polizeibeamten anwies, ihre Plätze einzunehmen, der den Verteidigern Ratschläge gab, während die Richterbank im Gerichtssaal anwesend war, der Staatsanwältin Kazabaka mitteilte, wer der Reporter war, die ihr Plädoyer mitschrieb und übermittelte, und der schließlich bedeutungsvoll und lautstark verschiedene Punkte des Verfahrens kommentierte, war sicher der Clou der Show. Sein ungewohnter Auftritt wurde begleitet von der Performance „Chic Ausgehen am Samstagabend“, was neben dem Gefühl des Seltsamen auch einige komische Unterbrechungen in der Finsternis des Verfahrens bot.

Während die erwähnten Richter*innen und die Staatsanwältin die Doppelrolle der Theaterbühne und der dei ex machinaiv spielten, trugen die Protagonisten dieser Geschichte mit einem Mut, der sich sogar in einem verhaltenen Lächeln ausdrückte, die ganze Last der Tragödie auf ihren Schultern. Hierbei handelt es sich natürlich um die vier jungen Flüchtlinge. Es wäre keine korrekte Analogie, sie als „Antigones“ zu bezeichnen, denn Antigonev hatte sich gegen ein ungerechtes Dekret ihres königlichen Onkels aufgelehnt und kannte die Konsequenzen, während die Männer, die hier „im Namen des griechischen Volkes“ vor Gericht standen, die volle Last der Konsequenzen einer ganzen Reihe von politischen Entscheidungen, Gesetzen, Dekreten und Vereinbarungen trugen, ohne auch nur gegen eines davon verstoßen zu haben. Sie waren also eher die Sündenböcke. Sie wurden von den Hohepriestern der Justiz, nachdem sie sie aus der Hölle von Moria herausgepickt hatten, wegen aller aufgrund der einwanderungsfeindlichen Politik des griechischen Staates möglichen Verbrechen angeklagt und in die Wüste der Gefängnisse geschickt.

Es stellte sich nämlich heraus, dass die drei – abgesehen von der Ungerechtigkeit in der Sachevi – „fälschlicherweise“ als Erwachsene verurteilt und inhaftiert worden waren, während sie tatsächlich Minderjährige waren, als sie auf der Grundlage der einzigen Zeugenaussage angeklagt wurden (wie auch zwei weitere der „Moria Six“).

Die Vorsitzende Karanastasi eröffnete die Schlacht bereits in der Phase der Einsprüche und feuerte die ersten Kanonenschüsse auf das „Andere“ gegenüber: Sie war bemüht, die Angeklagten nichts sagen zu lassen, ließ aber auch deren Verteidiger hinsichtlich ihrer Anträge kaum zu Wort kommen. Sie forderte zu ihrer Unterstützung die Staatsanwältin Kazabaka als weitere Panzerdivision an, damit diese krude Lügen und Verdrehungen verbreite. Letztere argumentierte, dass die Angeklagten in der Gefängnisschule etwas Grundgriechisch gelernt hätten und es daher nicht notwendig sei, die Anklageschrift in eine Sprache zu übersetzen, die alle verstehen könnten. Zum einen dies. Zum anderen, dass sie angeblich nie gesagt hätten, dass sie minderjährig seien, obwohl sie dies vom ersten Moment an immer wieder verzweifelt erklärt hatten. An verschiedenen Stellen ihrer Stellungnahmen erhob die Staatsanwältin theatralisch und mit gespielter Empörung ihre Stimme. Schließlich gab die Kammer zweien der drei Anträge/Einsprüche statt (zu Beginn des Verfahrens hinsichtlich der Minderjährigkeit dreier der vier Angeklagten und am Ende der Verhandlung die Ablehnung der Nebenklage), wies aber den ersten Antrag des Inhalts, dass das Verfahren wegen der Nichtübersetzung der Dokumente von vornherein unzulässig sei, ab und machte damit früh klar, zu welchem Ergebnis sie kommen werde.

Staatsanwältin Kazabaka sagte: „Die Angeklagten wissen sehr genau, was ihnen vorgeworfen wird, einige von ihnen haben sogar zwei Anwälte!“ Dies war ein Punkt, den sie auch zu anderen Zeitpunkten während des Prozesses betonte: „Denn er hatte einen Anwalt beim Ermittlungsrichter, und sogar einen Anwalt aus Athen, aus Glyfadavii… einen kompletten Anwalt aus Glyfada, man höre! Nicht einmal einen ortsansässigen!“ Und in ihrem Plädoyer: „Würde der Angeklagte hierher kommen, organisiert, mit drei Anwälten und Zeugen aus dem Ausland, wenn er nicht verstehen würde, warum er vor diesem Gericht steht?! Er lügt und das Gericht hat das sehr wohl verstanden. Deshalb hat er einen anderen Geburtstag im Asylverfahren, einen anderen Geburtstag bei seiner Verhaftung und einen anderen Geburtstag heute genannt. Denn so hat er es gelernt, er lügt gerne, es gibt keine andere Erklärung!

Diese drei Zitate sind typisch für die Rede, mit der Staatsanwältin Amalia Kazabaka den – zum Schluss noch einen – Angeklagten, auf dem Gericht und Staatsanwältin ihren Zorn abluden, für schuldig erklärte. Warum bist Du Nutznießer von Solidarität? Warum sollten sich Anwälte aus Athen und sogar aus Glyfada – hört, hört! –, bemühen, Dich zu verteidigen? Warum kommen Menschen aus anderen Teilen des Landes und aus dem Ausland, um Dir beizustehen? Das alles ist doch sicher ein finsteres Komplott gegen Griechenland! Hört euch das an, ihr Schöffen: einen Anwalt aus Glyfada hatte der „illegale Migrant“!

Amalia Kazabaka gehört zu jener Kategorie von Menschen, mit denen wir leider auf diesem Planeten leben und die nicht akzeptieren wollen, dass es andere Menschen gibt, die sich verpflichtet fühlen, in jeder ihnen möglichen Weise einem Menschen beizustehen, der sich auf der falschen Seite der Macht befindet – nämlich unter ihren Panzerraupen. Sie vertreibt solche Gedanken weit, weit weg. Denn wenn sie sie an sich heranließe, wäre sie gezwungen, sich die Kluft einzugestehen, die sie von den anderen trennt, die Kluft, die sie letztlich von jedem anderen menschlichen Wesen trennt und sie in einer mickrigen und lichtlosen Existenz gefangen hält.

Genau aus diesem Grund ist sie in dieser Position. Wer sonst wäre besser geeignet, der unkontrollierten Justiz eines Staates zu dienen, dessen unkontrollierter damaliger Minister für Einwanderung und Asyl, Mitarakis, auf Twitter schrieb: „Die Brandstifter von Moria sind verhaftet, die provisorische Unterkunft ist fertig, die Covid-Tests werden durchgeführt. Und die Sicherheit aller ist gewährleistet (sic).“ Das war um 14:31 Uhr mittags am 15. September 2020, zur gleichen Zeit, als die Jugendlichen, die schließlich angeklagt wurden, gerade ihre Aussagen machten, ohne bis dahin überhaupt verhaftet worden zu sein. Die Strafverfolgung ist also vorab beschlossen, vorab beschlossen auch das Ergebnis. Wer kann ernsthaft behaupten, dass ein solcher Staat ohne jegliche rechtliche Absicherung über die seit der Aufklärung angestrebte „Gewaltenteilung“ verfügt? Nicht einmal der gemäßigtste „Mann der Mitte“.

Das vorab beschlossene Urteil zeichnete sich im Rauch der Schützengrabenkämpfe, zu denen das Gericht verkommen war, deutlicher ab, als die Vorsitzende zwei Verfahrensfragen aus dem Nichts aufwarf und sie mit Schreien betonte: erstens Vorlage der Nachweise für die Bezahlung des Verteidigerhonorarsviii und zweitens, dass die Verteidigung Zeugen nur zu Beginn des Prozesses und nicht später hätte benennen dürfen. Dinge, die für jeden, der schon einmal bei Gericht war, beispiellos sind. In Wirklichkeit handelte es sich um nichts anderes als um den Versuch der Vorsitzenden des Berufungsgerichts, die Zahl der anwesenden Anwälte der Verteidigung zu verringern, aber auch, die Aussage von Zeugen wie der Forscherin Demeter Andritsou zu verhindern, die die technische Studie der Forschungsteams Forensic Architecture und Forensis unterstützen sollte. Es hatte den Anschein, als wolle das Gericht um jeden Preis die ordnungsgemäße rechtliche Vertretung der Angeklagten sowie die Widerlegung der einzigen und löchrigen Zeugenaussage, auf deren Grundlage alle sechs verhafteten Personen des Brandes angeklagt wurden, mit tatsächlichen Nachweisen verhindern.

Dies war der Punkt, an dem die Vorsitzende und die Staatsanwältin gemeinsam den bösartigsten Angriff starteten und den „Feind“ mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Waffen beschossen: die Gewehre der Sub-Sub-Paragrafen der Buchstaben der Strafprozessordnung, das Luft-Bombardement mit vulgären Beleidigungen der Persönlichkeit der Forscher*innenix durch die Staatsanwältin sowie die schwere Artillerie der vorgetäuschten Unwissenheit. Es bedurfte eines eineinhalbstündigen intensiven Kampfes von der Richterbank aus, um zu verhindern, dass das Video der technischen Studie von Forensic Architecture/Forensis, das fünfundzwanzig Minuten (!) dauert, den Schöffen vorgeführt wurde.

Die aufeinanderfolgenden „Argumente“ der Vorsitzenden und der Staatsanwältin waren unzusammenhängend und widersprüchlich:

  • Das werden wir uns während der Urteilsberatung ansehen;
  • Warum sollten wir es uns ansehen? Wir werden den Bericht dazu lesen;
  • Geben Sie uns nur die Ergebnisse, nicht den ganzen Bericht;
  • Worauf stützt sich die Studie? Warum nennt man uns nicht den Vor- und Nachnamen, das Geburtsdatum und den Wohnort (das ist keine Übertreibung, sondern wurde von Staatsanwältin Kazabaka wortwörtlich gesagt) derjenigen, die damals den Brand auf Video aufgenommen habenx?
  • Die Namen der Forscher*innen werden uns nicht mitgeteilt. (Sie sind alle im Bericht aufgeführt.)
  • Das sind keine Sachverständigen der Feuerwehr, sondern ein paar ausländische Unternehmen mit Sitz in Deutschland.

Wie aus der Kriegskunst von Sun Tzu bekannt ist (die, bewusst oder unbewusst, vom Gerichts-Staatsanwaltschafts-Block praktiziert wurde), kann man nicht alles gewinnen, sondern man muss kleine Zugeständnisse machen, um das wichtigste Ziel der Schlacht zu erreichen. Das Gericht erlaubte daher der Forscherin Dimitra Andritsu, als Zeugin auszusagen – immer unter dem Beschuss von Staatsanwältin Kazabaka, die während der gesamten Zeugenaussage Kommentare einwarf.

Die Formulierung, dass man ihr „erlaubte auszusagen“, ist keine verbale Übertreibung. In dreizehn Jahren Gerichtsberichterstattung für omniatv kann ich mich an keinen Fall erinnern, in dem ein Zeuge der Verteidigung durch den Richtertisch „vertrieben“ wurde. Auf eine verkürzte Aussage drängen, wenn sich dieselbe Sache wiederholt, ja. Aber niemals einen Zeugen mit einer Frage („Was wollen Sie uns sagen?“) entlassen, ohne dass der Zeuge seine Antwort beendet hat und bevor die Verteidiger auch nur eine einzige Frage stellen konnten. Ist das passiert? Ja. Auch das ist passiert. Und zwar damit, dass der oben beschriebene selbsternannte „Herr des Gerichtssaals“, der „Maitre“, die Zeugin anbrüllte: „Setzen Sie sich, Frau Zeugin“. Der Kampf war nun zu einer Show geworden, die an einen Saloon im Wilden Westen erinnerte, von der Sorte mit Richter-Sheriff-Barmann. Zum Glück ohne Todesstrafe und mit einigen Einschränkungen in der Anklageschrift, die, wie Staatsanwältin Kazabaka sagte, gerne noch andere Anklagepunkte als „Brandstiftung“ enthalten gesehen hätte – je nachdem, wie es den Polizeizeugen eingefallen wäre.

Um diesen Zustand der juristischen Gesetzlosigkeit im Gerichtssaal zu rechtfertigen, wurde die Waffe der Massenvernichtung eingesetzt: die rassistischen Verweise auf „Migranten, und zwar illegale“. So beschrieb die Staatsanwältin all die Menschen, die der griechische Staat in Moria eingepfercht hatte. Denn wenn man am Ende keine Beweise hat, um die Schuld der Person zu beweisen, die man vor Gericht stellt, zieht man sich zurück auf die Entmenschlichung der Person, die Dämonisierung ihrer Existenz und die Kriminalisierung nicht einiger ihrer Handlungen, sondern dessen, was sie ist.

Der Rassismus war während des gesamten Prozesses allgegenwärtig. Angefangen bei der ständigen Wiederholung der Phrase „die da, die Ausländer, die Migranten“, die die Staatsanwältin absichtlich und zielgerichtet wiederholte, um den Status des Asylbewerbers zu leugnen, bis hin zu der unverhohlenen Lüge „Wenn er Geld gesammelt hat, um mit dem Boot nach Griechenland zu gelangen, warum hat er sich dann nicht einen Pass von Afghanistan besorgt (von wo er geflohen ist, um Asyl zu beantragen) und ist im Iran oder in der Türkei geblieben?“. Abgesehen von der vorgetäuschten Unkenntnis der Lage in Afghanistan könnte sich hier auch eine Eifersucht auf die Regimes im Iran und in der Türkei verbergen, mit denen die Staatsanwältin Kazabaca in der Tat perfekt hätte zusammenarbeiten können.

Die Methode der Dämonisierung des Angeklagten als Angehöriger einer Kategorie von „Anderen“, die als „Bedrohung“ bezeichnet werden, ging so weit, dass Amalia Kazabaka in ihrem Plädoyer auch die staatlichen Maßnahmen während der COVID-Pandemie heranzog. (An dieser Stelle sei daran erinnert, dass diese Regierungspolitik das Land auf Platz 13 weltweit bei den Todesfällen pro Million, mit einer Gesamtzahl von bis heute 37.869 Toten, gebracht hat, während das „Long Covid“-Syndrom derzeit in Griechenland um sich greift): „Und an diese Maßnahmen, die alle griechischen Bürger durchgemacht haben, für die wir Papiere geschrieben haben, um auf die Straße zu gehenxi, hat der Angeklagte sich nicht gehalten, und zusammen mit anderen hat er, indem er das Recht seines Landes hier durchsetzen wollte, hier Katastrophen angerichtet“.

Niemand weiß, wo man diese Misere anpacken und wo wieder loslassen soll. Indem man die Bedingungen des Lockdowns, den eine Staatsanwältin zwei Monate lang in ihrem Haus verbrachte, mit denen der Flüchtlingskonzentrationslager gleichsetzt, die über ein ganzes Jahr lang ununterbrochen eingeschlossen waren? Durch Beschönigung der elenden Bedingungen in Moria und des Terrors, den die totale Abschottung für die dort Eingeschlossenen bedeutete? Von der ständigen Anwesenheit militarisierter Polizisten und Menschen in weißen Uniformen, die nachts in den Zelten ohne jegliche Vorinformation Covid-Fälle „aufspürten“?

Diese vorgetäuschte Realitätsferne wurde übrigens vom gesamten Gericht inszeniert. Während des Plädoyers des Angeklagten fragte ihn die Vorsitzende Glykeria Karanastasi, „warum er keinen Zeugen zum erstinstanzlichen Gericht mitgebracht hat“, woraufhin die Verteidigung anmerkte: „Die Verhandlung fand während Covid statt, Frau Vorsitzende…“ und sie dann antwortete: „Oh, wir hatten COVID, ja…“, fast enttäuscht darüber, dass ihre Frage ins Leere lief.

Dieses „hier das Gesetz seines Landes durchsetzen wollen“ war der Satz, der zusammen mit all den anderen die Absichten der Staatsanwältin und ihr Zusammenspiel mit der Vorsitzenden zur Beeinflussung der Schöffen vollständig enthüllte.

Amalia Kazabaka baute, ungehindert durch das Gericht, eine fantastische Geschichte auf, gestützt auf zwei Säulen. Die erste Säule war die einzige Aussage eines Zeugen, der mit der Polizei zusammenarbeitete, der Lesbos zu der Zeit verließ, als jede Ortsveränderung von Asylbewerbern aus „auf Gesundheitsmaßnahmen“ beruhenden Gründen, verboten wurde, und der kurz darauf Flüchtlingsstatus erhielt. Und das Tüpfelchen auf dem i: Die Polizei behauptete, sie könne ihn „nicht ausfindig machen“. Das ist nicht weit entfernt von der bekannten Taktik der „anonymen Anrufe“, der beliebten Methode, mit der die Polizei Verfahren nach Artikel 187A des Strafgesetzbuchesxii einleitet.

Die zweite Säule der Erzählung der Staatsanwältin bestand darin, den Schöffen klarzumachen, dass wir es mit „ihnen“ zu tun haben. „Mit ihnen, den Ausländern, den Einwanderern“. Mit anderen Worten, dass in dem Fall nicht auf der Grundlage der Beweise urteilen sollten, sondern auf der Grundlage fremdenfeindlicher Reflexe, die so methodisch und mit großen Anstrengungen durch die Institutionen, die Schulbildung und die Interventionen der Kirche in die lokalen Gemeinschaften eingepflanzt werden.

Außerdem antwortete dieselbe Staatsanwältin auf eine offizielle Anfrage nach der Verzögerung bei der Bearbeitung des faschistischen Pogroms auf dem Sappho-Platz im Jahr 2018xiii, dass die „gestiegenen Verpflichtungen“ aufgrund der „Kriminalität von Ausländern“ daran schuld seien, wobei sie insbesondere auf den Brand von Moria verwies. Dieser ereignete sich aber erst im Jahr 2020.

Den besten Schlusspunkt setzte sie wieder in ihrem Plädoyer: „Wir hören hier die ganze Zeit von Migranten, ich habe gestern Abend zuhause gesessen und gesehen, dass auf Webseiten, die ich nicht kenne, geschrieben wurde, dass ich eine Rassistin bin, ich hätte rassistische Reden gehalten. Und ich möchte fragen, diese Menschen hier, die hergekommen sind [hebt den Ton an], denen ihr Eigentum niedergebrannt wurde, das Eigentum des griechischen Staates und des UNHCR, wer sieht diese armen Menschen, wer wird sie entschädigen? Wie sie uns sagten, waren diese Menschen, diese Migranten, eine wirkliche Gottesstrafe für das Dorf dort in Moria.“

Kurz gesagt, sowohl „Rassismus gegen Griechen“ als auch Entmenschlichung von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten. Frau Kazabaka muss gespürt haben, wie sie am Mittag des 7. Oktober 2020xiv von einer großen Traurigkeit überflutet wurde.

Zwei Schöffen blieben standhaft und fielen nicht auf dieses vorsätzliche Theater herein.

Staatsanwältin Amalia Kazabaka hat einen reichen „politisch nuancierten“ Lebenslauf.

  • Im Oktober 2011 hatte sie als damalige Staatsanwältin erster Instanz inmitten der Unregierbarkeit nach dem Zusammenbruch der Regierung von Premierminister G. Papandreou damit gedroht, die Vorsitzenden von Schülerräten zu verfolgen, die Schulbesetzungen in Katerini erklärt hatten.
  • Im Juni 2013, unter der Samaras-Regierung wurde sie zur stellvertretenden Staatsanwältin am Landgericht befördert und nach Mytilene versetzt, wo sie bis heute ihre „Aufgaben“ wahrnimmt.
  • Seit April 2018 ist sie für die strafrechtliche Verfolgung des rassistischen Pogroms lokaler Faschisten gegen Migrant*innen auf dem Sappho-Platz zuständig, bei dem schließlich einige Anklagepunkte gestrichen wurden und nur noch wegen Ordnungswidrigkeiten angeklagt wird. Am 29.11.2021 antwortete sie auf eine schriftliche Anfrage des Justizministeriums, dass das Ermittlungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei, da das Büro des Ermittlers aufgrund „eines dramatischen Anstiegs der Kriminalfälle aufgrund der von Ausländern entwickelten Kriminalität, die im September 2020 im Brand der Kripo Moria gipfelte“, sehr beschäftigt sei. Das heißt, sie war mit der Verfolgung von Faschisten noch nicht fertig, weil zwei Jahre später „die Ausländer Moria verbrannten“.


    Übersetzung: Achim Rollhäuser


    Siehe zur Entwicklung dieses Prozesses auch den Beitrag Griechenland: Rechtsstaat im Verfall von Achim Rollhäuser



    Anmerkungen

i ausgesprochen wie „Kasabaka“, also mit weichem „s“ wie in „sie“

ii Die Staatsanwaltschaft (StA) sitzt in Griechenland auf dem Richterpodest direkt neben dem/den Richter/n, während der Angeklagte und die Verteidigung unten Platz nehmen. So wird die besondere und fast gerichtsgleiche Stellung der StA bereits räumlich hervorgehoben.

iii Berufsrichter und StA

iv wörtlich: „Götter aus der Maschine“, im antiken Theater plötzlich aus dem Nichts auftauchende Götter, die von den Menschen nicht in den Griff zu bekommende Konflikte lösen

v Antigone, antike Tragödie von Sophokles. Antigone begrub gegen den ausdrücklichen Befehl des Königs, aber entsprechend den Geboten der Götter, ihren im Kampf gefallenen Bruder. Sie sollte deswegen sterben und wurde in eine Grabkammer gesperrt, wo sie verhungern sollte. Sie erhängte sich jedoch. Antigone folgte mithin einem höheren Gebot als dem des Königs/Staats, obwohl ihr die Folgen bewusst waren.

vi insofern sie nichts Unrechtes getan hatten

vii nobler südlicher Vorort von Athen

viii In Griechenland muss zu Beginn eines Prozesses nachgewiesen werden, dass das Mindesthonorar für die Verteidigung bezahlt ist. Darin sind neben dem Honorar des Anwalts selbst enthalten seine Sozialversicherungsbeiträge und Steuern sowie die Beiträge zur Anwaltskammer. Das sind in einem Berufungsverfahren wie hier insgesamt 1.530 €. Sind sie nicht zu Prozessbeginn bezahlt, wird eine vom Angeklagten eingelegte Berufung als unzulässig verworfen.

ix von Forensis und Forensic Architecture

x Es handelt sich bei den Handyvideos fast ausschließlich um solche, die von Geflüchteten aufgenommen wurden.

xi In Griechenland musste man in der ersten COVID-Phase eine SMS schreiben oder ein Erklärung ausfüllen, in der man bekanntgeben musste, warum man die Wohnung verlassen wollte.

xii § 187A betrifft die „terroristische Vereinigung“.

xiii Damals griffen faschistische Schläger zusammen mit einigen Hooligans Geflüchtete an, die auf dem Sappho-Platz inmitten der Inselhauptstadt Mytilene ein Zeltcamp errichtet hatten, weil im Lager Moria kein Platz mehr war.

xiv Tag des Brandes im Moria-Camp

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