Von Achim Rollhäuser
An dieser Stelle befasse ich mich mit einem erneuten eklatanten Bruch aller Regeln, die einen Rechtsstaat ausmachen. (1)
2021 haben die für Migration und Asyl zuständigen Minister die Türkei zu einem „sicheren Drittstaat“ für Asylbewerber*innen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia erklärt. 2023 wurde die Entscheidung bekräftigt. Das bedeutet, dass bei Geflüchteten aus diesen Ländern, sofern sie nach Griechenland über die türkische Grenze bzw. aus türkischen Gewässern einreisen, die individuellen Fluchtgründe nicht geprüft werden, sondern ihre Asylanträge als unzulässig abgewiesen werden, weil sie ja in der „sicheren“ Türkei hätten bleiben können. Dabei war schon damals allgemein bekannt, dass die Türkei keineswegs einen sicheren Aufenthalt für Flüchtlinge bot.(2)
Gegen den entsprechenden Erlass haben Hilfsorganisationen für Geflüchtete geklagt. Nach negativen Entscheidungen der Instanzgerichte hat der Staatsgerichtshof (3) (StGH) die Frage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt, der u. a. entschied: „[…] da sich aus den Akten ergibt, dass die Türkei die Rückübernahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in ihr Hoheitsgebiet ab März 2020 generell ausgesetzt hat, können die zuständigen griechischen Behörden […] Anträge auf internationalen Schutz nicht mit der Begründung als unzulässig ablehnen, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat ist.“ (4)
Entsprechend hat der StGH im Februar 2025 den Gemeinsamen Ministerialerlass (GME) zur Einstufung der Türkei als „sicheres Drittland“ aufgehoben. Der Vorsitzende des Gerichts gab das am 21.03.25 bekannt. Schon am 9. April 2025, also noch vor der Veröffentlichung der Entscheidung des StGH und Bekanntwerden ihres Wortlauts, erließ die Regierung einen neuen Erlass mit gleichlautendem Inhalt, indem also die Türkei erneut als „sicheres Drittland“ für Asylbewerber aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia eingestuft wird.
Natürlich verstößt der neue GME, ohne dass die mitunterzeichnenden Minister überhaupt die Veröffentlichung der Entscheidung des StGH abwarten, in eklatanter Weise gegen die Rechtmäßigkeit und Rechtssicherheit, da sie Artikel 95 Abs. 5 der Verfassung ignoriert, der besagt, dass „[…] die Verwaltung verpflichtet ist, Gerichtsentscheidungen zu befolgen […]“.
In der Presseerklärung des Vorsitzenden des StGH heißt es, das Gericht habe den [vorherigen] GME für rechtswidrig erklärt, da es der Ansicht war, dass die in den geltenden Rechtsvorschriften festgelegten Kriterien für die Einstufung eines Landes als sicheres Drittland nicht korrekt bewertet wurden und insbesondere die in den verfügbaren Quellen enthaltenen Informationen über die Lage in der Türkei nicht spezifisch bewertet wurden. Nun behaupten die zuständigen Ministerien in einer Pressemitteilung zum neuen GME, dass dieser neue Erlass „in voller Übereinstimmung mit dem Urteil des Staatsgerichtshofs“ erlassen wurde. Dieses Urteil ist jedoch noch nicht veröffentlicht worden; niemand kennt es (!). Es ist schon erstaunlich, mit welcher Chuzpe die griechische Regierung oft agiert.
Und es geht noch weiter. So teilt das Ministerium für Einwanderung und Asyl der Presse mit, dass die Verabschiedung des neuen EMG „[…] die sofortige Ablehnung der Asylanträge der oben genannten Personen, die illegal aus der Türkei nach Griechenland eingereist sind, und ihre Rückführung […]“ ermöglichen werde. Das ist erstens eine Lüge, da niemand unter der Geltung der gleichlautenden früheren Erlasse in die Türkei zurückgekehrt ist, und zweitens auch die ausdrückliche Absichtserklärung der Regierung, dass sie nicht einmal höchstrichterliche Entscheidungen einzuhalten beabsichtigt.
Dass diese Geflüchteten nicht in die Türkei abgeschoben werden können, weiß natürlich auch die Regierung. Sie setzt aber mit dem neuen Erlass eine Anzahl von Personen, die eindeutig internationalen Schutzes bedürfen, darunter Familien mit Kindern und besonders schutzbedürftige Personen, einer anhaltenden Situation der Rechtsunsicherheit aus, so der Griechische Flüchtlingsrat und Refugee Support Aegean.
Diese Organisationen schreiben weiter (5): „Es kann nicht sein, dass sich die Verwaltung in einem vernünftig organisierten Staat über das Recht hinwegsetzt und Menschen in Gefahr und Verzweiflung stürzt, nur um kurzlebigen politischen Eindruck zu schinden, etwas, das offensichtlich nur darauf abzielt, ein extrem fremdenfeindliches Publikum zu befriedigen.
Nicht das erste Mal, dass die rechtskonservative Mitsotakis-Regierung von Trump lernt…
Anmerkungen
(1) Fortsetzung meines Beitrags in der „Griechenlandsolidarität“ vom 27.03.24, „Griechenland: Rechtsstaat im Verfall” (https://griechenlandsoli.com/2024/03/27/griechenland-rechtsstaat-im-verfall/#more-23423); s. auch https://griechenlandsoli.com/2024/04/28/sie-haben-angst-sie-brechen-sogar-europaisches-recht/#more-23517
(2) Heute hat sich die Lage noch einmal erheblich verschlechtert, insbesondere für Syrer*innen, die massenhaft in ihr Heimatland abgeschoben werden.
(3) vergleichbar in Deutschland mit dem Bundesverfassungs- und dem Bundesverwaltungsgericht
(4) Rechtssache C-134/23


