
von Achim Rollhäuser
Am 23.02.24 hat das griechische Parlament mit den Stimmen der Regierungspartei Neue Demokratie ein neues Strafgesetzbuch und verschiedene Änderungen der Strafprozessordnung beschlossen.
Zunächst einige Fakten zu Gefangenenzahlen in Deutschland und Griechenland:
Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in Deutschland zum 31.03.23:
- gut 44.200, entspricht einem Strafgefangenen auf knapp 2.000 Einwohner
- entspricht 53 Strafgefangenen auf 100.000 Einwohner
- 28.673 Personen (65 %) hatten eine deutsche und 15.559 Personen (35 %) eine ausländische Staatsangehörigkeit
- Mit Gefangenen in U-Haft hat die BRD 67 Gefangene pro 100.000 Einwohner. (Zum Vergleich: USA 530 Gefangene auf 100.000 Einwohner, Türkei 340, Russland 300, Ungarn 200 (höchste Zahl in der EU), UK 145, Frankreich 109, Italien 103.)
Griechenland (Zahlen von 2021):
- ca. 11.000 Gefangene (einschl. U-Haft), entspricht einem Gefangenen auf knapp 1.000 Einwohner
- entspricht 104 Gefangenen auf 100.000 Einwohner
- 4.620 Personen (42 %) hatten eine griechische und 6.380 (58 %) Personen eine ausländische Staatsangehörigkeit. Das ist der zweithöchste Prozentsatz ausländischer Gefangener in der EU (nach Luxemburg).
- In den letzten 10 Jahren sind immer zwischen 2.000 und 2.500 Geflüchtete eingesperrt, die wegen Beihilfe zu unerlaubter Einreise, z. B. weil sie Ruderpinne des Schlauchboots gehalten haben, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Sie, die also selbst Geflüchtete sind und eigentlich wegen Umständen, die während ihrer Flucht entstanden, gar nicht verurteilt werden dürften, stellen die zweitgrößte Gruppe aller Gefängnisinsassen dar.
- Die griechischen Haftanstalten sind zu etwa 110 % überbelegt, wobei die Überbelegung in manchen Anstalten 160 % beträgt. Griechenland ist wiederholt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen der Zustände in den griechischen Gefängnissen verurteilt worden; die Verhältnisse in der Haftanstalten seien unmenschlich und erniedrigend; Art. 3 der Europ. Menschenrechtskonvention („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“).
Allgemein kann man sagen, dass in Griechenland für vergleichbare Delikte deutlich höhere Strafen als in Deutschland verhängt werden. Dadurch, dass d*ie Gefangene durch Arbeit die Vollzugsdauer erheblich verkürzen kann, dass außerdem bei vielen leichteren Delikten die Reststrafe viel früher zur Bewährung ausgesetzt werden kann als in Deutschland – siehe unten –, ist die tatsächliche Vollzugsdauer jedoch nicht viel höher als in Deutschland.
Es ist hier nicht der Raum, alle Änderungen durch das neue Gesetz wiederzugeben. (Das Paket umfasst im Gesetzblatt 56 Seiten.) Hier die wesentlichen:
- Die Mindeststrafen und die Haftdauer bei Vergehen werden erhöht.
- Die Möglichkeit, sich „freizukaufen“, d. h. den Vollzug der Freiheitsstrafe durch Geldzahlung abzuwenden, wird für Strafen von mehr als 2 Jahren abgeschafft. Bisher konnte man sich freikaufen, wenn die Freiheitsstrafe nicht höher als 5 Jahre war.
Mit dem neuen Gesetz werden alle Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren in Geldstrafen oder gemeinnützige Arbeit umgewandelt, „es sei denn, das Gericht hält es nach seinem Ermessen für erforderlich, das Urteil ganz oder teilweise zu vollstrecken, um den der Straftäter von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten“.
Hier haben wir also ein dem deutschen in etwa vergleichbares System: Bei niedrigeren Strafen (bis zu 6 Monaten) gibt’s in Deutschland in der Regel Geldstrafe (Tagessätze), § 47 StGB, danach Freiheitsstrafen zur Bewährung mit Geldauflage. In GR wird nun immer noch bis zu 2 Jahren Haft in Geldstrafe (oder gemeinnützige Arbeit) umgewandelt.
Auch in Deutschland können nach § 47 StGB übrigens auch niedrigere Gefängnisstrafen vollstreckt werden, siehe die bayerischen Urteile für die „letzte Generation“.
In Griechenland wird der tiefe Einschnitt durch das Verbot des Freikaufens von Strafen über 2 Jahren wohl zu etwas höheren Gefangenenzahlen führen.
- Die vollständige Aussetzung von Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren zur Bewährung ist nicht mehr möglich. Dies war bisher bei bis zu fünfjährigen Haftstrafen der Fall. (Zum Vergleich: Auch in Deutschland ist Bewährung nur bei Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren möglich.)
Die entsprechende Strafnorm lautet jetzt: „Ist eine Person zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als drei Jahren verurteilt worden, so hat das Gericht, wenn die Umwandlung der Strafe auf eine Geldstrafe … oder in gemeinnützige Arbeit im Sinne des § 104a aufgrund des Strafmaßes nicht zulässig ist [also weil sie höher ist als 2 Jahre; Anm. d. Verf.] oder der Auffassung ist, dass sie nicht ausreicht, um die verurteilte Person von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten und dass zu diesem Zweck die Verbüßung eines Teils der Strafe erforderlich ist, so kann es die Vollstreckung dieses Teils anordnen, wobei die Dauer der Vollstreckung nicht weniger als dreißig Tage und nicht mehr als sechs Monate betragen darf; der Rest der Strafe wird außer in den in Absatz 1 genannten Fällen zur Bewährung ausgesetzt.“
D. h. bei allen Strafen von 2 bis 3 Jahren muss und bei allen anderen niedrigeren Strafen kann das Gericht im Urteil anordnen, dass ein Teil der Strafe verbüßt und der Rest zur Bewährung ausgesetzt wird.
Wenn jemand wegen eines Vergehens zu einer höheren Strafe als 3 Jahre verurteilt wird, setzt das Gericht fest, wie viel zu verbüßen ist, bis der Rest zur Bewährung ausgesetzt wird. Mindestverbüßung ist 1/5 der Strafe, Höchstzeit 3/5. Das ist sehr viel gnädiger als in Deutschland, wo 2/3 die Regel sind und Halbstrafe nur in Ausnahmefällen Anwendung findet (Uli Hoeness).
- Es werden neue Straftatbestände für die „Störung des Betriebs von Krankenhäusern und Schulen“ eingeführt. Das soll wohl dazu beitragen, Streiks im Gesundheitswesen und die Besetzung von Schulen – wie sie gerade jetzt massenhaft stattfinden – zu verhindern.
- Das Gericht kann bei ausländischen Gefangenen im Fall von Verurteilungen zu mehr als 6 Jahren Freiheitsstrafe die Abschiebung nach der Haft in Fällen, in denen es dies für angemessen hält, anordnen.
- Ein ganz wichtiger Punkt im Prozessrecht: Polizeibeamte werden von der Pflicht befreit, als Zeugen vor Gericht zu erscheinen. Es hat in Griechenland immer eine sehr hohe Zahl von Freisprüchen gegeben, weil die als Zeugen erschienenen Polizisten sich nicht mehr erinnern konnten, sich widersprochen haben oder etwas anderes erzählt haben als das, was sie in ihren Protokollen niedergeschrieben hatten.
Es ist in Griechenland nicht denkbar, dass die Polizisten ihre eigenen Protokolle mit nach Hause nehmen oder dass sie gar, wie in Deutschland jedenfalls in politischen Verfahren üblich, durch eine/n Zeugenbetreuer/in auf das Verfahren vorbereitet und „eingenordet“ werden.
Offenbar haben die herrschende Klasse und ihre Justiz die oft peinlich dummen Fehler ihrer Polizisten als Zeugen zu sehr gestört. Daher soll es ab sofort möglich sein, nur noch die Protokolle – die oft zu hundert Prozent gleichlautend sind – zu verlesen.
Meines Erachtens ist der eigentliche Grund für die Einführung des neuen Strafrechts der, dass die Justiz verschiedene Aktivist/innen der politisch-sozialen Bewegungen nicht in den Knast bekommen hat. Beispielhaft dafür ist der Rouvíkonas. Dessen Mitglieder haben im Rahmen „zivilen Ungehorsams“ immer wieder Gesetze gebrochen (Hausfriedensbruch, Beleidigung, Sachbeschädigung usw.). Sie haben korrupte Politiker/innen „besucht“ und ihre Schreibtische „aufgeräumt“; sie sind in die Gebäude von Firmen gegangen, bei denen unrechtmäßige Entlassungen stattfanden; sie haben von Ärzten, die zusätzlich zu ihrem Kassenhonorar noch ein kräftiges Zusatzentgelt verlangt haben, Rechenschaft gefordert.
Wegen solcher Handlungen konnten die Mitglieder vom Rouvikonas allenfalls zu niedrigen Haftstrafen verurteilt werden, von denen sie sich dann freigekauft haben. Das hat die griechische herrschende Klasse enorm gewurmt, zumal sie ja selbst Ziel der Aktionen war. Mit dem neuen Gesetz können die Genoss*innen jetzt, weil ja „Wiederholungsgefahr droht“, in den Knast gesteckt werden.
Ich persönlich glaube also – im Gegensatz zu vielen anderen Kritiker*innen des neuen Gesetzes, nach deren Ansicht es nur populistische Motive für die neuen Regelungen gibt – nicht, dass sich jetzt die Gefängnisse Griechenland schlagartig füllen werden. Die Richter*innen werden die Strafen anzupassen wissen, werden aber halt die Unbotmäßigen, die Menschen des Widerstands, eher wegsperren.
Ich halte die griechische herrschende Klasse nicht für so ungeschickt, dass sie jetzt wahllos, wie manche sagen, alle (wer ist „alle“?) einsperrt und sich so in den Gefängnissen noch mehr Probleme schafft, als sie eh hat. Die Verurteilungen des EGMR wegen der Haftbedingungen hier machen der Regierung zwar nicht wirklich zu schaffen, solange die EU-Kommission weiterhin alle Griechenland zugesagten und zustehenden Gelder zahlt; aber die Kritik im europäischen Raum dürfte so nicht kleiner werden.
Ich glaube daher, dass das neue Gesetz genau das ändern soll, was Politiker vor allem der Regierung seit Jahren beklagten, dass sie nämlich mit den bislang bestehenden Justizwerkzeugen nicht zielgerichtet Aktionen zivilen Ungehorsams begegnen konnten.
Dass in diesem Zusammenhang auch neue Straftatbestände eingeführt und die Strafen für schon bestehende Straftatbestände erhöht wurden, so dass kein Freikaufen oder Aussetzung zur Bewährung mehr möglich ist, verstärkt aus meiner Sicht diesen Eindruck.

