Rassismus, die Hintertür, durch die der Faschismus kommt: „Ich sehe nicht, ich höre nicht, ich spreche nicht“

Von Achim Rollhäuser und Nikos Giannopoulos
[Übersetzung von Achim Rollhäuser des Artikels in der Epochi vom 13.05.23 https://www.epohi.gr/article/46395/ratsismos-h-kerkoporta-toy-fasismoy-den-vlepo-den-akoyo-den-milao]

Als die Nazis 1933 in Deutschland an die Macht kamen, hatten sie klar gesagt, was sie wollten: Deutschland wieder stark machen, „Lebensraum“ in den slawischen Ländern erobern, die Juden „unschädlich“ machen. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte damit kein Problem. Nach dem Krieg sagte diese Mehrheit: „Nein, wir wollten den Krieg nicht. Wir haben den Holocaust an den Juden nicht gewollt. Wir haben nichts davon gewusst.“

Im modernen Griechenland hat Mitsotakis 2019i versprochen, dass er Flüchtlinge an der Einreise hindern werde. Dies konnte, während im Nahen Osten Kriege tobten, nur erreicht werden durch Folter, Demütigung und massive Rechtsverletzungen gegenüber denjenigen, die versuchten, über Griechenland die (so oder so nur relative) Sicherheit Europas zu erreichen.

Mitsotakis hat sein Versprechen nicht gebrochen: Seit er auf den Stuhl des Ministerpräsidenten gestiegen ist, werden überall Grenzschützer, Armee und paramilitärische Banden eingesetzt, der Schandzaun am Evros wird verlängert, die Küstenwache fangt Geflüchtete mit gefährlichen Manövern im Meer ab und drängt sie in die Türkei zurück. Selbst dann, wenn die Flüchtlinge schon das Ufer erreicht haben, bringt die Coast Guard sie zurück aufs offene Meer und lässt sie dort ohne Versorgungii zurück. Die Pushbacks passieren nicht nur an den Grenzen, denn Flüchtlinge werden noch weit im Landesinneren Griechenlands bis nach Kavala und Thessaloniki aufgegriffen, an die Evros-Grenze zurückverfrachtet und illegal bzw. kriminell in die Türkei abgeschoben.

In den letzten drei Jahren gab es Tausende von Pushbacks, bei denen Hunderttausende von Flüchtlingen illegal zurückgeschickt wurden. Es gibt Geflüchtete, die bis zu zwölf Mal Pushbacks erlitten, bevor sie schließlich in Griechenland Asylantrag stellen konnten. Die Regierung selbst brüstet sich damit, dass sie 2020 und 2021 Hunderttausende an der „illegalen“ Einreise gehindert hat. Der Begriff „illegal“ hat wieder Einzug in den öffentlichen Diskurs gehalten, wobei ausgeblendet wird, dass es sich bei den Geflüchteten um potentielle Asylbewerber*innen handelt und also die Genfer Flüchtlingskonvention ausgehebelt wirdiii. So wird die kriminelle staatliche Praxis schöngeredet.

Meist bleibt es nicht dabei, dass die Geflüchteten zurückgeschoben werden. Die Opfer dieser kriminellen Praktiken werden geschlagen und verletzt, misshandelt und gedemütigt, oft nackt ausgezogen, sogar Frauen, während ihnen Geld und Wertsachen, Pässe und Dokumente gewaltsam abgenommen werden. Die Dokumentation solcher Vorfälle ist reichhaltig.

Die Sicherheitspolitik mit undurchlässigen Grenzen und harten Pushbacks hat jedes Jahr zu Hunderten von Todesfällen geführt. Die Zahl der Schiffsunglücke in der Ägäis nimmt zu und am Evros werden Leichen angespült. Die Flüchtlinge werden auf immer gefährlichere Routen gedrängt, die Zahl der Toten steigt.

Charakteristisch für diese brutale Abschreckungspolitik ist auch die Anzahl der Gefangenen in griechischen Gefängnissen wegen „illegaler Schleusung von Migranten“: 3.000 Menschen, die überwältigende Mehrheit von ihnen selbst Flüchtlinge, verbüßen langjährige Haftstrafen, weil sie das von den Schleusern verlassene Boot an die griechische Küste gesteuert und damit Tausenden von verzweifelten Menschen das Leben gerettet haben!iv

Griechenland hat die volle Unterstützung der EU für seine systematischen Verstöße gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte und erhält viele hundert Millionen Euro von der EU, um die Grenzen zu befestigen, Abschiebungen durchzuführen und geschlossene Lager auf den Inseln der Ägäis und darüber hinaus zu errichten. Natürlich weist die Regierung dreist alle Anschuldigungen mit Unterstützung ihrer eigenen Medien und Rückendeckung der EU zurück.v

Heute, im Vorfeld der Wahlen, macht Mitsotakis die Flüchtlingsfrage erneut zu einem der zentralen Punkte seiner Agenda. Nachdem die Regierung die Infrastruktur des Landes verscherbelt, das Bildungs- und Gesundheitswesen zerstört, Millionen aus verschiedenen EU-Töpfen in sich hineingefressen und die Kassen der alliierten Kriegsindustrien mit nutzlosen Rüstungsgütern vollgestopft hat, nachdem die Wirtschaft für die Reichen boomt, während die Preise rapide steigen und die Arbeitenden von allen möglichen Gutscheinen leben müssen und verarmen, hat Mitsotakis keine andere Wahl, als law and order zu verkaufen und dabei die Schwächsten, die Geflüchteten, ins Visier zu nehmen und auszugrenzen.

Die Haupt-Oppositionspartei Syriza? Sie schweigt. Während Mitsotakis von der Anti-Flüchtlings-Rhetorik zu profitieren scheint, beharrt Tsipras auf seinem erbärmlichen Festhalten am Evros-Zaun, führt die klägliche Kampagne gegen die Türkägäisvi (als ob die Türkei nicht an die Ägäis grenzte…) und redet dauernd von der Ausweitung der griechischen Hoheitsgewässer auf 12 Seemeilenvii. Einem nicht vorhandenen politischen Zentrum zuliebe wird jedwede antirassistische und antinationale Physiognomie von SYRIZA im Meer des Opportunismus ertränkt…

Wir sind der Meinung, dass niemand seine Augen, Ohren und Mund verschließen sollte angesichts des Sterbens, der Misshandlungen und der Zurückschiebungen an den Grenzen. Wir alle sind aufgefordert, nicht die drei Affen zu geben, sondern gegen diese Barbarei zu kämpfen. Den Flüchtlingen müssen sichere Wege zu den Zufluchtsorten ihrer Wahl eröffnet werden. Die mehr oder weniger offene Faschisierung der Gesellschaft muss gestoppt werden, solange es noch möglich ist. Andernfalls wird sie sich wie ein Krebsgeschwür im gesamten Gesellschaftskörper ausbreiten. Dieser Widerstand ist vor allem die Aufgabe der Linken, aber auch allgemein aller demokratisch und gerecht gesinnten Menschen.



Anmerkungen

i Mitsotakis wurde im Juni 2019 Ministerpräsident.

ii auf aufblasbaren Rettungsinseln

iii Art. 31 GFK (auszugsweise): „Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren…“

iv Diese Gefangenengruppe ist mittlerweile die zweitgrößte Häftlingsgruppe in Griechenland.

v Pushbacks werden nach wie vor abgestritten, obwohl die Beweise überwältigend sind und sich auch EU-Ausschüsse und Europarat von ihrer Existenz überzeugt zeigen. Aber seitens der EU-Kommission sind keine Sanktionen zu erwarten und so macht die Regierung weiter wie bisher.

vi Die staatliche türkische Tourismusorganisation hat 2022 ihre Tourismuskampagne mit dem Slogan versehen „Turkaegean: Coast of Happiness“. Dagegen sind in Griechenland die Regierung, (fast) alle Parteien und Medien Sturm gelaufen.

vii Eine Ausweitung der griechischen Hoheitsgewässer auf 12 Seemeilen würde wegen der vielen griechischen Inseln bedeuten, dass die Ägäis mehr oder weniger ein griechisches Binnenmeer würde. Griechenland beansprucht ein Fluginformationsgebiet (FIR) von 10 Meilen, etwas was von der Türkei nicht anerkannt wird. Es ist auch recht ungewöhnlich, denn so deckt sich, entgegen dem internationalen und Völkerrecht, der nationale Luftraum nicht mit den Territorialgewässern. Einzelheiten zu den Auseinandersetzungen um die Ägäis bei Wikipedia (https://en.wikipedia.org/wiki/Aegean_dispute, auf englisch).

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