Wer weiß schon, dass der neoliberale Sunnyboy die Demokratie in Griechenland schleift?

Bild: Yorgos KonstantinouImagistan

Auf einer dreieinhalbstündigen Veranstaltung am 24.3.2023 in Berlin war darüber sehr viel zu erfahren. – Eine Zusammenfassung der Inhalte der Veranstaltung „Die Orbanisierung Griechenlands – das autoritäre System des Kyriakos Mitsotakis“ – mit Ausblicken.

Zwei Griechen haben über autoritäre Entwicklungen in ihrem Land berichtet. Beide sind Experten für diese Themen und auch selbst Betroffene. Sie wurden persönlich Opfer des Angriffes auf die Demokratie.
Der investigative Journalist Stavros Malichudis sprach über autoritäre Tendenzen in unterschiedlichen Bereichen.
Um die Pressefreiheit ist es sehr schlecht bestellt. In einem Ranking von „Reporter ohne Grenzen“ ist Griechenland das europäische Land mit der geringsten Pressefreiheit. Im Vergleich mit außereuropäischen Ländern schneidet es sogar schlechter ab als manche Diktaturen. Es gibt nur eine einzige Presseagentur und die Mainstreammedien wiederholen zumeist wortwörtlich das, was die Regierung verlautbaren lässt.
Journalisten werden bedroht, Regierungsvertreter üben Rufmord an ihnen aus. Es werden sogar Journalisten ermordet. Der bekannte Finanzjournalist Giorgos Karaivaz wurde auf offener Straße hingerichtet. Er hat vor allem die Verwicklung von Behördenmitarbeitern mit Wirtschaftsverbrechen untersucht. Viele Mitglieder des Europaparlaments haben kritisiert, dass auch zwei Jahre nach dem Mord noch keinerlei Spuren zu den Auftraggebern des Mordes gefunden wurden. Man hat den Eindruck, dass der griechische Staat kein Interesse daran hat, den Fall aufzuklären. Es erinnert an vergleichbare Vorfälle in der Slowakei und auf Malta.
Ein aktuelles Beispiel für die Medienmanipulation: Am Sonntag, den 2.4.2023 fand in Thessaloniki ein riesiges Konzert mit namhaften Künstlern gegen die Wasserprivatisierung statt. Die Mainstreammedien berichteten einfach nicht darüber.
Nicht umsonst spricht man in Griechenland schon lange von einem „Dreieck der Sünde“ angesichts der engen Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Medien. Die großen Reeder besitzen in der Regel TV-Stationen, Zeitungen und einen Fußballverein.
Die Berichterstattung der Medien wird wesentlich von der Staatspropaganda des Mitsotakis-Systems beeinflusst.
Regierungsvertreter und auch der Ministerpräsident selbst scheuen nicht vor persönlicher Verunglimpfung und vor dreisten Lügen zurück.
Ich nenne hier nur zwei Beispiele dafür. Als die Überwachung des Vorsitzenden der Partei PASOK, Nikos Androulakis, bekannt wurde, streuten Regierungskreise, der armenische und der ukrainische Geheimdienst hätten diese Überwachung gefordert. Was natürlich Blödsinn und nur ein Ablenkungsmanöver war.
Ein zweites Beispiel: Die Regierung war trotz dramatisch hoher Zahlen von Toten aufgrund der Coronapandemie nicht bereit, das öffentliche Gesundheitswesen zu stärken. Folge war, dass es auf den Intensivstationen nicht genug Betten für die vielen Kranken gab, die künstlich beatmet (intubiert) werden mussten. Damit konfrontiert behauptete Mitsotakis im Parlament, es gäbe keinerlei Beweise dafür, dass Intubierte auf Intensivstationen behandelt werden sollten. Dabei gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eine umfangreiche griechische wissenschaftliche Studie, die bewies, dass die Wahrscheinlichkeit zu sterben für Intubierte außerhalb von Intensivstationen sehr viel höher ist. Die Veröffentlichung dieser Studie war von der Regierung unterdrückt worden.

Das Mitsotakissystem missbraucht die Justiz in unzähligen gesellschaftlichen Bereichen. In letzter Zeit wird dies beim Agieren des obersten Staatsanwalts Dogiakos am deutlichsten. Er handelt nicht als unabhängiger Vertreter des Rechtssystems, sondern als Erfüllungsgehilfe von Mitsotakis. Dabei überschreitet er zumeist seine Kompetenzen. So auch aktuell bei der juristischen Verfolgung des furchtbaren Zugunglücks bei Tempi.

Bei Korruptionsskandalen gehen diejenigen, die bestochen haben, frei aus. Beispiel: der Siemens-Prozess. Die Whistleblower und sogar die Staatsanwälte werden verfolgt und vor Gericht gestellt – Beispiel: die Novartis-Prozesse.
Die Regierung ließ ein Fake News Gesetz verabschieden, nach dem ziemlich beliebig definiert und dann strafrechtlich verfolgt werden kann, was Fake News ist.
Mitsotakis bekämpft alle Behörden, deren gesetzlicher Auftrag es ist, die Macht demokratisch zu kontrollieren (die Datenschutzbehörde, die Behörde zum Schutz der Kommunikation und den Ombudsmann). Dafür gibt es viele Beweise – gerade heute (am 6.4.2023) zog die Regierung eine Gesetzespassage am Tag ihrer Entscheidung im Parlament zurück, weil der öffentliche Aufschrei zu massiv war. Eigentlich wollte sie Mitarbeiter der Kontrollbehörden mit Strafverfolgung bedrohen, wenn sie angebliche Geheimnisse öffentlich machen. Dieses Vorhaben zielte genau auf die Chefs der Kontrollbehörden.
Vor kurzem wurde ein Gesetz verabschiedet, das verhindern soll, dass der neue Star der Neonazis bei der Wahl im Mai ins Parlament einzieht. Ganz nebenbei erleichtert das Gesetz die Möglichkeit, jedwede Partei, die den Mächtigen nicht gefällt, verbieten zu lassen.

Sobald er Regierungschef wurde, unterstellte Mitsotakis den Geheimdienst sich persönlich. Kontrolleur des Geheimdienstes wurde sein Stabschef, seine zweite Hand, sein eigener Neffe. Die Anzahl der Überwachungen wuchs exponentiell. Jetzt sind es mehr als 15.000 Überwachungsfälle pro Jahr, von denen ein Vielfaches von Personen betroffen sind.

Er überwachte nicht nur seine Kritiker, sondern auch die höchsten Militärs und Minister seiner eigenen Regierung, die Ehefrauen der Minister, seine eigene Tante usw.
Es gibt dafür keinerlei justizielle Verfolgung. Dogiakos sorgt schon dafür.
Vor ein paar Tagen wurde bekannt, dass die europäische Staatsanwaltschaft jetzt gegen den Export der Predator-Software (die die komplette Kontrolle von Smartphones übenimmt), in Diktaturen ermittelt – etwas, was die griechische Regierung erlaubt hatte.

Ein weiterer Aspekt der Entdemokratisierung ist die Zunahme staatlicher repressiver Gewalt.
Unmenschliche Zustände in den meisten Gefängnissen existieren schon lange, aber die Situation hat sich noch verschlechtert.
Übermäßige Polizeigewalt hat ebenfalls zugenommen. Sie richtet sich gegen Oppositionelle und andere, bis hin zu Folter und zum Erschießen unbewaffneter Jugendlicher (ein Fall 2022 und ein Fall 2021). Übermäßige Polizeigewalt wird so gut wie nie bestraft.

Erik Markquardt, Mitglied des Europäischen Parlaments für die Grünen, saß im zweiten Teil der Veranstaltung auf dem Podium. Er betonte folgendes:
Der Angriff auf die Demokratie erfolgt als erstes auf die wehrlosesten Gruppen der Gesellschaft. Aber es ist ein Angriff gegen alle.

Die wehrloseste Gruppe in Griechenland sind die Geflüchteten. Der Angriff auf sie ist der brutalste.
Deshalb wollten wir, dass diese Verbrechen auf der Veranstaltung so gut wie möglich beleuchtet werden sollten. Iasonas Apostolopoulos, hatten wir eingeladen, weil wir glaubten, er würde diese Aufgabe sehr gut meistern. Er hat uns nicht enttäuscht.
Seit vielen Jahren rettet er Geflüchtete im Mittelmeer vor dem Ertrinken.
In Berlin machte er darauf aufmerksam, dass der mittlerweile zum Standard gewordene Begriff Pushback das, was in Griechenland passiert, nicht mehr trifft. Es geht nicht mehr um das Zurückdrängen von Geflüchteten in dem Augenblick, in dem sie Griechenland erreichen. Es geht um staatliche Entführungen – nicht mehr nur direkt an der Grenze oder der Küste. Kapuzenmänner entführen Geflüchtete aus allen Landesteilen Griechenlands, um sie auf dem Meer auszusetzen oder an der Landesgrenze mit Gewalt in die Türkei zu verfrachten. Unter Zwang werden auch Geflüchtete selbst dazu missbraucht, diese Gewalt auszuüben.

Ich zitiere Iasonas Apostolopoulos: „Hier haben wir die einzige Küstenwache der Welt, die nicht nur keine Schiffbrüchigen rettet, sondern Schiffbrüchige schafft. Sie holt Menschen vom Land und lässt sie auf dem Meer zurück. Sie macht also Schiffbrüchige.“

Es geht um billigendes Inkaufnehmen, dass Geflüchtete ertrinken oder sogar um Töten, durch brutale Misshandlungen, durch Schusswaffen, durch ertrinken lassen.
Es gibt Geheimgefängnisse an Land und auf Fähren, unzählige illegale Inhaftierungen;
Gefängnisse mit perverser Megaüberwachung – bezahlt von EU-Geldern.

Am bewegendsten für mich war folgendes, was Iasonas Apostolopoulos berichtete: Er kommt häufig mit Geflüchteten nach deren Rettung auf dem Rettungsboot ins Gespräch. Wenn die Geflüchteten erfuhren, dass er Grieche ist, zeigten sie ihm Folterspuren, die griechische Grenzsoldaten ihnen zugefügt hatten. Er schämte sich Grieche zu sein.

Es gibt aber noch andere Methoden des Kampfes der griechischen Behörden gegen die Geflüchteten als die physische Gewalt.
Es wurden bewusst unmenschliche Zustände für Geflüchtete in Griechenland hergestellt, auch wenn sie bereits Asyl erhalten haben.
Wohnmöglichkeiten wurden ihnen entzogen, sie bekommen keine finanzielle Unterstützung mehr, sogar keine Verpflegung.
Die Folge ist, dass sehr viele Geflüchtete weiter in andere EU-Länder ziehen.

Der Missbrauch der Justiz, von dem schon die Rede war, ist für Geflüchtete sehr viel extremer als in anderen Bereichen.
Sowohl Geflüchtete als auch Flüchtlingshelfer werden planmäßig kriminalisiert. Dafür werden immer neue Wege erfunden, die Justiz zu manipulieren.
Es wurden Gesetze verabschiedet mit folgendem Inhalt: Wer Geflüchteten die kleinste Hilfe zukommen lässt, etwa Wasser oder eine Decke gibt, oder ihnen nur sagt, wie sie einen bestimmten Weg finden können, kann mit hohen Strafen belegt werden.
Wer das Ruder eines Rettungsbootes führt, bekommt Jahrzehnte Gefängnis – auch wenn klar ist, dass die Schlepper das Boot verlassen hatten.
Verfahren werden über viel Jahre verschleppt.
Die Kriminalisierung der Flüchtlingshelfer war so erfolgreich, dass es heute in der Ägäis keine Seenotrettung mehr gibt.
Viele tausend Geflüchtete leiden in griechischen Gefängnissen, die neueste offizielle Zahl ist 2813 Menschen. Menschen, die glaubten, Europa würde ihnen helfen.

Die Fake News, die Staatspropaganda des Sytems Mitsotakis ist bezüglich der Geflüchteten extrem verlogen und unmenschlich.
Aus verzweifelten Menschen auf der Flucht, die in der Hoffnung auf Hilfe ihr Leben aufs Spiel setzen, werden Soldaten einer feindlichen Invasion, eine Bedrohung der nationalen Sicherheit.
Selbst Mitsotakis persönlich hetzt gegen Geflüchtete und betreibt Rufmord an Flüchtlingshelfern.
Ich zitiere Iasonas Apostolopoulos: „Die Regierung behauptet, dass Pushbacks nicht existieren und dass jeder, der über sie spricht, türkische Propaganda verbreitet und somit ein Feind Griechenlands und ein Landesverräter ist….
Ich bin Opfer rechtsextremer Hassreden, einer koordinierten Verleumdung und gezielter Angriffe mit Todesdrohungen, Fake News und einer ganzen Armee von orchestrierten Angriffen sowohl von namhaften Journalisten und Mainstreamzeitungen als auch anonym. Kürzlich gingen sie sogar so weit, dass sie meine Adresse zusammen mit Bildern meiner Haustür veröffentlichten und zum Morden aufriefen. Fast jeden Tag erhalte ich auf Twitter einen Kommentar mit Morddrohungen.“

Nach dem ersten Teil der Veranstaltung mit den Inputs der beiden Griechen folgte noch ein zweiter Block, in dem drei deutsche Politker:innen aus dem Europaparlament und dem Bundestag, von der Linken, den Grünen und der SPD über ihre Bemühungen, der griechischen Entdemokratisierung etwas entgegen zu setzen, berichteten.
Alle drei halten es für an der Zeit, Griechenland gegenüber EU-Gelder zurückhalten. Auch ein Vertragsverletzungsverfahren wurde mehrfach vorgeschlagen – es kann auch von einem einzelnen Staat beantragt werden. Eine Nichttätigkeitsklage läuft bereits gegen Griechenland.
Die Politiker:innen erklärten, durch welche EU-Mechanismen Kritik an Griechenland eingedämmt, ja oft sogar verhindert wird. Das Problem seien vor allem die Kommission und die Staaten.

Wer vermutet, dass die drei Politiker:innen mit ihrer Kritik an Griechenland im EU-Parlament eine Minderheitsposition vertreten, irrt: Am 16. März verurteilten alle Fraktionen des EU-Parlaments die Vertuschung des Überwachungsskandals durch Mitsotakis, d.h. sogar die konservative Fraktion, der die Nea Dimokratia angehört (siehe hier).

Zu Ende der Veranstaltung rief Iasonas Apostolopoulos zu einer breiten europäischen Solidaritätsbewegung für ein demokratisches und menschliches Griechenland auf.


Der Abend wurde hervorragend moderiert von dem Multitalent, der Aktivistin Prof. Dr. Margarita Tsomou.
Die teilnehmenden Politiker:innen im zweiten Block der Veranstaltung waren Gaby Bischoff, MdEP SPD, Clara Bünger, MdB Die Linke und Erik Marquardt, MdEP Bündnis 90/Die Grünen.
Die Veranstaltung war mit ca. 130 Personen sehr gut besucht.


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Die Video-Aufzeichnung der gesamten Veranstaltung kann hier angeschaut werden:
Videos der Veranstaltung „Die Orbanisierung Griechenlands – das autoritäre System des Kyriakos Mitsotakis“ am 24.3.23 Kamera: Ulrich Jossner



Ankündigung der Veranstaltung hier:
Vortrag und Diskussion: „Die Orbanisierung Griechenlands – das autoritäre System des Kyriakos Mitsotakis“ am 24. März 2023

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