
Von Achim Rollhäuser
Wir haben in diesem Blog schon häufiger über den Zustand des Rechtsstaats in Griechenland berichtet.i Leider verbessert sich unter der rechtskonservativen Neue-Demokratie-Regierung unter Ministerpräsident Mitsotakis die Lage nicht, sondern sie wird immer katastrophaler.
Natürlich ist auch in anderen kapitalistischen Ländern die Justiz eine Klassenjustiz. Sie ist für die bürgerliche Klasse ein wichtiges Herrschaftsinstrument. Aber es gibt Länder, wo die Justiz versucht, den Schein der Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit zu wahren, und es gibt Länder, wo man sich diese Mühe kaum noch gibt.
Deutschland war bis vor einiger Zeit eines der Länder, wo man – jedenfalls offiziell – den Rechtsstaat noch hochhielt. Das ändert sich nun mit der Regierung Merz. Ein deutsches Gericht erklärt, dass die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze gegen das Völkerrecht und damit auch gegen deutsches Recht verstoße; sofort erklären Innenminister und Kanzler, man werde die (offensichtlich illegale) Praxis beibehalten.
In Griechenland ist man schon ein Stück weiter. Die Justiz ist ganz überwiegend gleichgeschaltet. Man findet kaum noch Richter*innen und Staatsanwält*innen, die sich gegen die Regierung stellen. Und wenn es einmal eine*r tut, wird er*sie kurzerhand versetzt und von seinen*ihren Pflichten entbunden. Diese Unterwerfung der Justiz unter die Interessen der Regierung und des Kapitals ist eine der Erscheinungen, die wir in Griechenland schon seit einiger Zeit mit „Orbanisierung“ beschreibenii.
Bei der Vielzahl von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in denen Griechenland wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wird, ist die Situation nicht anders. Man zahlt und macht weiter wie bisher. Geändert wird in der Regel nichts.
Macht Europa doch einmal Ernst und will durch die Europäische Staatsanwaltschaft in Griechenland ermitteln, versucht man das zu verhindern – auch mittels Bruch europäischer Gesetze.iii
Auch der letzte Bericht des World Justice Project zeigt den weiteren Verfall des Rechtsstaats in Griechenland auf. Hier meine Übersetzung des betreffenden Artikels aus der Zeitung der Redakteure (EfSyn) vom 12.11.25iv:
„Weder Unabhängigkeit noch Unvoreingenommenheit
Ungleichheit, überlange Dauer, Einmischung der Regierung und Gefängnisse der Schande. Dies ist das Bild Griechenlands im Bericht der internationalen unabhängigen Organisation World Justice Project, die Legalität, Gleichheit vor dem Gesetz und Korruption auf globaler Ebene untersucht, dokumentiert und veröffentlicht. Das Gesamtbild des Berichts zeigt ein System, das verbraucht [auch „überfordert“, „überstrapaziert“]v und ungleich ist. Ein Strafrechtssystem, das bestraft, ohne zu bessern, das Verfahren endlos in die Länge zieht, ohne Ergebnisse zu erbringen, und das den Bürger eher verunsichert als schützt. Eine Reihe von Meinungsumfragen der letzten Jahre zeigt zudem, dass das Vertrauen der Bürger in die Justiz von Jahr zu Jahr abnimmt und dass die Ungleichheit in Bezug auf das Recht immer mehr institutionalisiert wird.
Laut dem Bericht des World Justice Project (WJP) liegt Griechenland im Bereich der Strafjustiz auf Platz 55 von 143 Ländern. Mit einer Punktzahl von 0,50 auf einer Skala von 0 bis 1 liegt unser Land hinter Ländern wie Botswana, Ruanda und Namibia; und unter den so genannten „entwickelten“ Ländern (Großbritannien, USA, Kanada, europäische Länder) auf Platz 29 von 31!
Unparteilichkeit mit Klassenfilter
Die Unparteilichkeit des Strafrechtssystems – die Gleichbehandlung aller, unabhängig von sozialem Status, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder Genderidentität – wird mit einem Wert von 0,42 erfasst und bringt Griechenland auf den 89. Platz. Dies ist eines der schlechtesten Ergebnisse des Landes und beweist, dass die Justiz nicht „blind“ ist, sondern sehr wohl sieht, mit wem sie es zu tun hat. Arme Menschen, Migranten, Roma und LGBTQ+-Personen bleiben die schwachen Glieder in einer Kette der Repression.
Noch besorgniserregender ist der Zustand des Gefängnissystems, wo Griechenland an 81. Stelle liegt (Note 0,35). Der Bericht hebt die immer schon bestehenden Probleme in den Gefängnissen hervor, wie z. B. die unzumutbaren Haftbedingungen, die Überbelegung, den Personalmangel und die kaum vorhandenen Wiedereingliederungsprogramme. Gleichzeitig zeigt er ein System auf, das eher bestrafend als bessernd wirkt und eher Ausgrenzung als zweite Chancen produziert.
Griechenland liegt bei den strafrechtlichen Ermittlungsergebnissen auf Platz 38 und bei den Strafverfahren, wobei die Schnelligkeit und die Qualität der Entscheidungen gemessen wird, auf Platz 65. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich das altbekannte Krankheitsbild von Verschleppungen, Personalmangel und einer Justiz, die langsam und ungleich [gemeint ist: je nach Stand, Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit usw. der/des Beschuldigten/Angeklagten] arbeitet und Bürger jahrelang wie in Geiselhaft [auf Entscheidungen] warten lässt.
Und auch bei den Indikatoren für Korruption und politische Unabhängigkeit bleibt das Bild problematisch. Griechenland liegt hier an 47. bzw. 53. Stelle, was ein System widerspiegelt, das von staatlicher Einmischung und unlauterer Einflussnahme durchdrungen ist, worunter die institutionelle Unabhängigkeit der Justiz leidet.
Der WJP-Bericht legt besonderen Wert auf die Achtung der Rechte der Angeklagten, wie Unschuldsvermutung, Vermeidung willkürlicher Verhaftungen, angemessenen Rechtsbeistand und Schutz vor Missbrauch/Misshandlungen. Wie erwartet, ist Griechenland auch hier nicht überzeugend. Willkürliche Verhaftungen, übermäßig häufige Anordnung von Untersuchungshaft, Vorfälle von Polizeigewalt und Beschwerden über die Haftbedingungen prägen das Bild eines Landes, das weit davon entfernt ist, ein Rechtsstaat zu sein…
„Wir tendieren zu einem Rechtsstaat der Dritten Welt“
Kommentar von Dr. jur. Eftychis Fytrakis, Rechtsanwalt
Länderbewertungen sagen nicht immer die (ganze) Wahrheit; aber sie sind immer indikativ. Wenn viele solcher Bewertungen von verschiedenen Organisationen in etwa das Gleiche zeigen, sollte sich jedes Land fragen, was los ist, und sehen, was getan werden muss. Aber Griechenland verteidigt sich in der Regel einfach, wertet diese Berichte herab und geht selbstgefällig seinen „brillanten“ Weg weiter.
Genau das geschieht mit den jüngsten Berichten über Rechtsstaatlichkeit und Justiz. Die Regierung „schert sich einen Dreck darum“; richterliche Unabhängigkeit ist ihr nicht dienlich, Beschleunigung der Rechtsprechung braucht Geld, die Korruptionsbekämpfung kann ihr schaden, ein faires Verfahren kann den Spielraum für Eingriffe in „interessante“ Fälle einschränken. Aus diesen Gründen zeigen sowohl die Gesetzgebung als auch die Behandlung des (Straf-)Justizsystems, dass wir in Richtung eines Rechtsstaats der Dritten Welt tendieren. […]“
Anmerkungen
i https://griechenlandsoli.com/2025/04/17/regierung-missachtet-bewusst-hochstrichterliche-entscheidung/ mit weiteren Nachweisen
iihttps://griechenlandsoli.com/2023/04/06/videos-der-veranstaltung-die-orbanisierung-griechenlands-das-autoritare-system-des-kyriakos-mitsotakis-am-24-3-23/
iii https://griechenlandsoli.com/2024/04/28/sie-haben-angst-sie-brechen-sogar-europaisches-recht/
iv https://www.efsyn.gr/ellada/dikaiosyni/490663_oyte-anexartiti-oyte-amerolipti
v Eckige Klammern sind solche des Übersetzers.

