
Von Achim Rollhäuser
Am 07.02.2024 hat das EU-Parlament eine Resolution zu Griechenland verabschiedet, in der die griechische Regierung scharf verurteilt wird. Wir finden in dem Text fast alle politischen Projekte, die die griechische Regierung in den letzten Jahren angefasst hat. Hier die wichtigsten Punkte:
- kaum vorhandene Pressefreiheit („Petsas-Liste“i)
- zunehmende Korruption
- SLAPPS (strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung) durch (ehemalige) Regierungsmitglieder gegen die Presseii
- Einschüchterungsklagen gegen Panagiotis Dimitrasiii und andere Seenothelfer
- Nichtaufklärung des Mords an dem Journalisten Karaivaziv
- Gewaltexzesse der Polizei, Straflosigkeit von Polizisten, z. B. im Fall von Zak Kostopoulosv; keine gründlichen Ermittlungen zu den Toden der drei jungen Romavi
- Predatorvii:
- ausbleibende Untersuchungen zum Einsatzes von Spähsoftware (Predator)
- Druck auf ADAEviii, von Untersuchungen abzusehen; Auswechseln der Mitglieder des Verwaltungsrats
- Auswechslung der Staatsanwältin in den Predator-Ermittlungen durch einen der Regierung genehmen Staatsanwalt
- Versuch der Staatsanwaltschaft am Areopag, die Ermittlungen durch die ADAE zu unterbinden
- Unterwanderung der Polizei durch Gruppen der organisierten Kriminalität (Mafia)
- keine vollständige Vollstreckung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ausbleibende Ausführung von einstweiligen Anordnungen des Gerichts
- Stockende Pylos-Ermittlungenix
- Pushbacks, Raub, Misshandlungen von Geflüchteten an den Grenzenx – Das Parlament „verurteilt die Kommission aufgrund ihres dramatischen Versäumnisses, mit Blick auf die Aufnahmebedingungen, die Pushbacks und die Menschenrechte das EURecht durchzusetzen, und ist der Ansicht, dass eher Vertragsverletzungsverfahren angebracht wären als das Lob der Kommissarin“.
- Gerichtsverfahren gegen humanitäre Helferxi
- mangelnde Ermittlungen zur Tempi-Katastrophexii; Weigerung des Parlaments, wichtige Sachverständige als Zeugen zu hören; Weigerung, eine Untersuchung gegen ehemalige Minister einzuleiten
- Einschränkungen gegen NGOs und Journalisten, die über Migration berichten
So liest man in der Resolution unter anderem: Das Parlament „ist zutiefst besorgt über die äußerst schwerwiegenden Bedrohungen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Griechenland; betont, dass eine Gewaltenteilung für eine robuste Demokratie von entscheidender Bedeutung ist, und weist besorgt darauf hin, dass diese stark unter Druck geraten ist“. Viel deutlicher kann man es wohl kaum sagen.
Der Areopagxiii hat auch sogleich das EU-Parlament bestätigt und gezeigt, dass Gewaltenteilung in Griechenland kaum existiert: Er hat – obwohl ihm das als unabhängigem Gericht natürlich in keiner Weise zusteht – das EU-Parlament kritisiert und die Vorwürfe zurückgewiesen.
Das EU-Parlament legt besonderes Gewicht auf die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaft und Gerichten. Genau daran hapert es erheblich, und das Parlament legt den Finger in die Wunde. Wir erleben das jeden Tag: Die Regierung gibt die Richtung vor und die Gerichte spuren.
Exemplarisch nachgewiesen werden kann das im Falle der „Moria 6“. Die sogenannten Moria 6 sind die sechs Jugendlichen und jungen Männer, die beschuldigt werden, das Feuer im Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos im September 2020 gelegt zu haben. Die Regierung, die von ihrer Verantwortung für die unerträglichen und menschenunwürdigen Verhältnisse in Moria ablenken wollte, erklärte, man werde die Täter umgehend fassen. Und siehe da, schon am nächsten Tag fand die Polizei einen angeblichen Zeugen, der die Sechs beschuldigte, die daraufhin in Haft genommen wurden. Der damalige Migrationsminister Mitarakis erklärte sofort, man habe die Schuldigen gefasst, die nun vor Gericht gestellt würden. Unschuldsvermutung: Was ist denn das?
Zwei der jungen Männer wurden als Jugendliche angeklagt, die anderen vier als Erwachsene, obwohl zumindest drei andere offensichtlich damals auch Jugendliche waren. Das erstinstanzliche Gericht in Mytilene verurteilte die Vier, die alle ihre Unschuld beteuerten, zu Gefängnisstrafen von 10 Jahren. Der angebliche Zeuge blieb verschollen, wurde auch vom Gericht nicht gesucht; es wurde nur seine Aussage verlesen. Das reichte dem Gericht aus. Im Vorfeld und während des Prozesses wurden so ziemlich alle Grundsätze, die die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrem Art. 6 vorschreibt, verletzt: Den sechsen wurde von Anfang an keines der das Verfahren betreffenden Dokumente übersetzt, nicht einmal die Anklageschrift; ihre Verteidigung und ihr Fragerecht wurden übermäßig eingeschränkt. Es war von Anfang klar, dass das Verfahren auf eine Verurteilung zu hohen Strafen rauslaufen würde.
Im Berufungsverfahren, das Anfang März wiederum in Mytilene stattfand, zeigte ein ähnliches Bild. [Siehe dazu ausführlich den Beitrag Moria-Prozess: tiefster Keller einer rassistischen Justiz] Drei der Angeklagten wurden allerdings nun als Jugendliche freigelassenxiv, weil sie eine Reihe von Nachweisen für ihre Minderjährigkeit zur Zeit der Tag vorlegen konnten. Aber gegenüber dem einen verbliebenen jungen Erwachsenen zeigten Gericht und Staatsanwältin, wie voreingenommen sie waren. Auch mit rassistischen Bemerkungen wurde nicht gespart.
Forensis und Forensic Architecture hatten nachgewiesen, dass der – wiederum nicht erschienene Zeuge – gelogen haben musste. Er konnte von dort, wo er sich nach seinen eigenen Angaben aufhielt, gar nicht gesehen haben, wo und wann das Feuer ausbrach. Es wurde dazu auch ein Film produziert, den sich das Gericht aber weigerte anzusehen. Es wäre sonst zu offensichtlich gewesen, dass die Angeklagten nicht für das Feuer verantwortlich waren.
So wurde gegen den Angeklagten eine Strafe von acht Jahren verhängt, zwar zwei Jahre weniger als erstinstanzlich, aber natürlich immer noch erschreckend hoch für einen tatsächlich Unschuldigen.
Dies ist die griechische Justiz: Die Regierung gibt die Linie vor, Staatsanwaltschaft und Gerichte verurteilen weisungsgemäß. Tempi, Pylos, die Tausende von „Schleuser“-Verfahren, in denen Geflüchtete, die z. B. die Ruderpinne eines Schlauchboots gehalten haben, zu Hunderten von Jahren Gefängnis verurteilt werden, sind nur die Spitze des Eisbergs.
Natürlich gibt es auch Ausnahmen, aber nur erschreckend wenige. Das Gesamtbild ist das einer reaktionären, der Staatsmacht willfährigen Justiz, offensichtlicher noch als in anderen europäischen Ländern. Dazu trägt auch das Auswahlverfahren und die Einnordung von Richter*innen und Staatsanwält*innen in der Nationalen Schule für Gerichtsangehörigexv bei, ein Verfahren, das in den meisten anderen europäischen Ländern so nicht existiert.
Die Rechtsstaatlichkeit in Griechenland ist so dem Zerfall preisgegeben.
i Stelios Petsas war 2020 Staatssekretär beim Ministerpräsidenten Mitsotakis, zuständig für Presse und Kommunikation. Petsas verteilte zu Beginn der Pandemie Gelder an Fernsehen, Radio und Zeitschriften, angeblich um mit den Geldern die Covid-Programme der Regierung zu fördern. Tatsächlich sind die Medien geschmiert worden, damit sie im Interesse der Regierung berichten. Deswegen haben auch regierungsfreundliche Medien sehr viel höhere Beträge erhalten als die eher kritischen, die teilweise völlig leer ausgingen. Die Regierung wollte die Liste mit Namen und Beträgen zunächst nicht veröffentlichen, musste dies dann aber doch, nachdem es heftige Proteste gegeben hatte.
ii So hat der ehemalige Bürochef von Mitsotakis SLAPPS gegen die „Zeitung der Redakteure“ und andere missliebige Medien, die über seine Verwicklung in den Predator-Spyware-Skandal berichtet hatten, erhoben, mit denen er bis zu einer halben Million Euro Schadensersatz verlangt.
iii Dimitras und seine NGO Griechische Beobachtungsstelle für die Helsinki-Vereinbarungen, Mitglied der International Helsinki Federation for Human Rights, werden beschuldigt, als Schleuser eine kriminelle Organisation gegründet zu haben, weil sie die Küstenwache über Flüchtlingsboote informierten, die zwischen der Türkei und Griechenland in Seenot geraten waren. Mit Einleitung der Ermittlungen wurde ihm jede Tätigkeit für seine NGO untersagt, anderenfalls U-Haft gegen ihn verhängt wird.
iv Karaivaz war ein Investigativ-Journalist, der zu den Verwicklungen zwischen der Polizei und der griechischen Mafia recherchierte. Er wurde im April 2021 ermordet. Bis heute wurden die Täter nicht gefunden.
v Zak Kostopoulos/JackieO war ein LGBTQ Aktivist, der im Sept. 2018 mitten in Athen von zwei rechtsradikalen Bürgern zusammen mit der hinzukommenden Polizei ermordet wurde. Die Bürger erhielten niedrige Haftstrafen und sind inzwischen auf freiem Fuß; die Polizisten wurden freigesprochen.
vi 2021, 2022 und 2023 wurden drei junge Roma, teilweise noch minderjährig, von der Polizei erschossen. Zwei von ihnen hatten Kleinstdelikte begangen, der dritte war gänzlich unschuldig.
vii Dies betrifft den Ausspähungsskandal durch den griechischen Geheimdienst, der direkt Mitsotakis unterstellt ist, gegen „Freund und Feind“, nämlich missliebige Journalisten, Oppositionspolitiker, aber auch Minister der eigenen Regierung, höchste Offiziere von Armee und Marine, Reeder und andere Magnaten, teilweise selbst Unterstützer der Regierung. Die Spyware wurde durch anderen täuschend ähnliche SMS auf die Handies der Abgehörten aufgespielt, deren gesamter Datenverkehr dadurch für den Geheimdienst bzw. die Regierung zugänglich wurde.
viii Die ADAE ist die Hellenische Behörde für Kommunikationssicherheit und Datenschutz
ix Dies betrifft das Versenken des Flüchtlingsboots im Juni ’23 durch die griechische Küstenwache mit über 600 Toten.
x Das betrifft jährlich tausende von Fällen mit Hunderttausenden von Geflüchteten
xi Hier wären z. B. zu nennen die Strafverfahren gegen das Alarmphone, sowie gegen Sarah Mardini und Sean Binder (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Sarah_Mardini).
xii Frontal-Zusammenstoß zweier Züge im Febr. 2023 in Nordgriechenland; bis heute gibt es kaum Ermittlungen, dafür aber umso mehr Vertuschung, z. B. durch sofortiges Betonieren der Unglücksstelle, so dass Beweismittel beseitigt wurden.
xiii das höchste griechische Zivilgericht, entsprechend dem BGH in Deutschland
xiv nach dreieinhalb Jahren U-Haft
xv In dieser Schule in Thessaloniki werden Richter*innen und Staatsanwält*innen ausgebildet. Man muss zunächst fünf Jahre Anwält*in sein und dann eine (schwierige) Aufnahmeprüfung absolvieren. Nach einem Jahr „Ausrichtung“ wird man dann auf die Menschheit losgelassen. Der Lohn für die Anpassung: ein Gehalt, das ungefähr dem Dreifachen des griechischen Durchschnittseinkommens entspricht.
Dieser Beitrag wurde auf der Facebookseite und auf der Webseite des Diktyo auf griechisch veröffentlicht: https://www.facebook.com/diktio und https://diktio.org/node/1635.

