
Von Şebnem Arsu, Giorgos Christides, Steffen Lüdke, Maximilian Popp, Bernhard Riedmann, Jack Sapoch und Florian Schmitz, Spiegel.de 17.02.2022:
„Tod in der Ägäis – EU-Grenzschützer sollen Flüchtlinge ins Meer geworfen haben
Das Verbrechen von Samos: Zwei Geflüchtete sind tot, ein Überlebender erhebt einen ungeheuerlichen Vorwurf. SPIEGEL-Recherchen weisen auf eine neue brutale Taktik der griechischen Küstenwache hin.
Die Geflüchteten wähnten das Schlimmste hinter sich, als sie die griechische Insel Samos erreichten. Mit einem Schlauchboot waren sie am 15. September 2021 von der türkischen Küste aus übergesetzt. Die Sonne ging gerade auf, als sie an den schroffen Felsen landeten.
Unter den 36 Geflüchteten waren an diesem Morgen zwei Männer, die ihre Heimat schon Monate zuvor verlassen hatten: Sidy Keita, 36, floh aus der Elfenbeinküste, nachdem er gegen den Präsidenten demonstriert hatte. Didier Martial Kouamou, 33, Vater zweier Kinder, hatte in Kamerun als Mechaniker gearbeitet, in Paris wartete sein älterer Bruder Séverin auf ihn. Beide Männer wollten in Europa Asyl beantragen.
Sieben Geflüchtete aus der Gruppe erinnern sich noch genau an Keita und Kouamou. Sie alle bezeugen gegenüber dem SPIEGEL, dass die Männer mit ihnen Samos betreten haben. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben sich für diese Fälle Regeln gegeben. Wer es in die EU schafft, hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Doch dazu kam es nie.
Wenige Tage nach ihrer Ankunft auf Samos wurden Keita und Kouamou tot aufgefunden. Die Strömung spülte ihre leblosen Körper in Richtung türkische Küste. Bei einer Untersuchung von Keitas Leiche stellten Mediziner fest, dass er ertrunken war.
Die Ägäis hat sich in den vergangenen Jahren in eine Todeszone verwandelt. Seit Frühjahr 2020 schleppt die griechische Küstenwache aufgegriffene Migrantinnen und Migranten systematisch aufs Meer hinaus und setzt sie dort auf aufblasbaren Flößen aus. Der SPIEGEL hat die illegalen Aktionen nachgewiesen, einige sind in Videos festgehalten. Die Bilder der verängstigten Flüchtlinge auf den Flößen sind in der Ägäis längst Alltag. Doch im Fall von Keita und Kouamou deutet einiges darauf hin, dass die Grenzschützer noch einen Schritt weitergegangen sind.
»Die Soldaten suchen nach uns«
Der SPIEGEL hat gemeinsam mit den europäischen Partnermedien »Lighthouse Reports«, »Guardian« und »Mediapart« recherchiert, um die Umstände ihres Todes zu klären. Die beteiligten Reporterinnen und Reporter befragten mehr als ein Dutzend Augenzeugen. Sie werteten medizinische Berichte, Fotos und Videos sowie Satellitenaufnahmen aus und sprachen mit Informanten in den griechischen Sicherheitsbehörden.
Die Recherchen legen nahe, dass griechische Grenzschützer Keita und Kouamou aufs Meer schleppten und über Bord warfen. Endgültige Beweise dafür gibt es nicht – aber glaubwürdige Indizien.“ weiterlesen (Paywall)