

Von Isabel Armbrust
Diese Frage beschäftigt die AutorInnen des aktuellen Newsletters von AthensLive Wire. Whistleblower müssen mit einer Verurteilung rechnen, anstatt Schutz zu erhalten, Freiwillige, die unter Einsatz ihres Lebens Brände bekämpft haben, wurden als Brandstifter inhaftiert und die Vertuschung der Ursachen des Zugunglücks von Tempi, bei dem im Februar 2023 57 Menschen ums Leben kamen, geht weiter. Die offiziellen Ermittlungen dazu wurden jüngst überstürzt abgeschlossen, ohne dass wichtige Beweise und Personen in Schlüsselpositionen untersucht wurden. Sehr viele Griech*innen betrachten Tempi als nationales Verbrechen und nicht als Unfall.
AthensLive Wire 321:
„…Staatsanwalt prüft 60.000 Seiten umfassende Akte und gibt 996-seitige Empfehlung ab – alles innerhalb einer Woche
Ob die Leichen der Opfer exhumiert werden, liegt bei der Justiz, sagte der Regierungssprecher. Aber bei welcher Justiz?
Maria Karystianou, die Vorsitzende der Vereinigung der Angehörigen der Opfer von Tempi, schrieb auf Facebook: „Am 17. März 2025 reichten drei Angehörige einen Antrag bei Staatsanwältin Apostolaki, der damaligen Leiterin der Staatsanwaltschaft Larissa, ein, ihre Aufsichtskompetenzen über die Tempi-Ermittlungen auszuüben. Am nächsten Tag, dem 18. März, entließ der Oberste Staatsanwalt Adeilini sie aus dem Fall und übertrug die Aufsicht an den stellvertretenden Berufungsstaatsanwalt Tsogas.“ Innerhalb von nur sieben Tagen – einschließlich des Wochenendes – studierte Tsogas die 60.000 Seiten der Akte, die ihm am 8. September zugeschickt worden waren und schrieb einen 1000 Seiten langen Anklagebericht. Sieben Tage!“
Am 29. August hatte der Untersuchungsrichter von Larissa die Ermittlungen zu diesem Verbrechen abgeschlossen, was die Familien der Opfer überraschte. 76 Angehörige der Opfer und Überlebenden des Zugunglücks von Tempi gaben eine Erklärung ab, in der sie die Wiederaufnahme des Strafverfahrens forderten. Sie argumentierten, dass die Ermittlungen übereilt abgeschlossen worden seien und erhebliche Lücken und Auslassungen aufwiesen, wobei wichtige Beweise entweder unzureichend geprüft oder ignoriert worden seien und mehrere ihrer Anträge unbeantwortet geblieben seien.
Fünfunddreißig Familien der Opfer beantragten beim griechischen Berufungsstaatsanwalt eine ergänzende Untersuchung und verwiesen dabei auf erhebliche Lücken in der Akte. Einige kritisierten, dass der Berufungsstaatsanwalt sich geweigert habe, sich überhaupt mit einer Delegation der trauernden Eltern zu treffen.
Kritik wird auch an der Geschwindigkeit der gerichtlichen Überprüfung geäußert: Am 15. September legte der Berufungsstaatsanwalt Labros Tsogas eine 996-seitige Empfehlung zu einer 60.000 Seiten starken Akte vor – eine Akte, die er am 8. September erhalten hatte. „Sie machen sich nicht einmal mehr die Mühe, den Schein zu wahren“, sagte Karystianou.
Angehörige weisen außerdem darauf hin, dass der neue Strafverfolgungsvorschlag Anklagen wegen Explosion oder fahrlässiger Tötung gegen Hellenic Train ausschließt. Berichten zufolge wurden Hellenic Train, die staatliche Eisenbahngesellschaft OSE und die beteiligten Beamten von der Anklage ausgenommen. Einige seien nicht einmal zur Aussage vorgeladen worden, heißt es in den Berichten weiter, darunter Beamte des für Eisenbahninfrastruktur, Instandhaltung und Sicherheit zuständigen Büros D14 des Verkehrsministeriums. Derzeit stehen 36 Personen vor Gericht, von denen die meisten wegen schwerer Straftaten im Zusammenhang mit der Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit angeklagt sind. Die Akte enthält rund 150 Zeugenaussagen, darunter 28 Passagiere und Augenzeugen.
Verurteilte Whistleblower und andere Tritte gegen das Recht
Diese Woche gab es weitere Hinweise darauf, dass es um die Rechtsstaatlichkeit in Griechenland schlecht bestellt ist. Ein griechisches Gericht befand am Montag zwei ehemalige geschützte Zeugen für schuldig, im Prozess um den Novartis-Bestechungsskandal (1) wiederholt falsche Aussagen gemacht zu haben. Insbesondere hatten die beiden Whistleblower zehn Politiker, darunter zwei ehemalige Premierminister, beschuldigt, vom Schweizer Gesundheitskonzern Novartis Bestechungsgelder angenommen zu haben.
Philistor Destempasides erhielt eine 25-monatige Bewährungsstrafe, weil er die ehemaligen Minister Adonis Georgiadis, Andreas Loverdos und Nikos Maniadakis fälschlicherweise beschuldigt hätte. Maria Marangeli wurde zu 33 Monaten Bewährungsstrafe verurteilt, weil sie gegen fünf Politiker, darunter Adonis Georgiadis, Yannis Stournaras, Andreas Loverdos, Marios Salmas und den ehemaligen Premierminister Antonis Samaras, angeblich falsche Beschuldigungen vorgebracht hatte.
Auf Basis der Aussagen der Zeugen wurde nie Anklage erhoben, woraufhin die beschuldigten Politiker Klage einreichten und sich selbst als Opfer einer politisch motivierten Verschwörung bezeichneten.
Die Nachricht fand wenig Beachtung, weit unter ihrer Bedeutung. Das Urteil sendet eine deutliche Botschaft: In Griechenland riskieren Whistleblower die Verfolgung durch genau die Beamten, die sie bloßstellen und müssen sogar mit einer Verurteilung rechnen.
Ebenfalls in dieser Woche endete endlich der Albtraum für zwei junge Freiwillige, die wegen Brandstiftung im Pflegeheim in Patras am 12. August verhaftet und inhaftiert worden waren. Nach 33 Tagen hinter Gittern erkannte das Gericht den Fehler und entließ sie, wobei ihnen lediglich die Ausreise aus dem Land untersagt wurde. Die Freilassung erfolgte, nachdem der Untersuchungsrichter von Patras, Pilichos, einen Vorschlag der Staatsanwältin Kapeleri angenommen hatte.
Von Anfang an warf der Fall Berichten zufolge ernsthafte Fragen auf. Familienangehörige und Augenzeugen betonten wiederholt, dass die 21- und 25-Jährigen keine Brandstifter waren, sondern ihr Leben riskierten, um das Feuer zu bekämpfen. Videoaufnahmen der Feuerwehr bestätigten, dass das Feuer durch „Funkenflug” und nicht durch vorsätzliche Brandstiftung verursacht wurde.
Dennoch sprach die Polizei zunächst von Brandstiftung und ließ dabei eine beunruhigende Eile erkennen, Bürger, die in gutem Glauben handelten, zu kriminalisieren.
Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht und ordnungsgemäßer Verfahren in Griechenland sind angebracht.
Egal was die UNO sagt
Diese Woche haben Regierungsvertreter auch das Völkerrecht in Frage gestellt. Der griechische Gesundheitsminister Adonis Georgiadis kritisierte den jüngsten Bericht der Unabhängigen Internationalen Kommission der Vereinten Nationen, in dem Israels Vorgehen im Gazastreifen als Völkermord bezeichnet wird. Er warf der UNO vor, israelische Vorwürfe wegen Fehlverhaltens ihrer Beamten, darunter die Zusammenarbeit mit der Hamas und die Verwendung falscher Identitäten, ignoriert zu haben, und argumentierte, die Glaubwürdigkeit der Organisation in der Region sei „äußerst begrenzt“.
Georgiadis wies auch die Haltung der UNO zu Jerusalem zurück, beharrte darauf, dass die Stadt historisch jüdisch sei, und lehnte die Idee einer geteilten Souveränität mit den Arabern ab. „Es ist mir völlig egal, was die UNO sagt”, betonte er und fügte hinzu, dass er akzeptiere, dass die Stadt „aus aktuellen politischen Gründen” zu 50 % israelisch und zu 50 % arabisch sei, aber nicht generell.
Am Montag stellte Georgiadis die Rechtmäßigkeit des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Frage und behauptete: „Es handelt sich um ein Gericht, das weder von Israel noch von den USA anerkannt wird, und ich erkenne es kaum an. Es betreibt Politik – zu Unrecht, sehr zu Unrecht.“ Auf die Frage, ob Griechenland den IStGH zu Unrecht anerkenne, antwortete er: „Es erkennt ihn zu Unrecht an, sehr zu Unrecht.“ [Griechenland hat das Römische Statut ratifiziert und damit den IStGH anerkannt; Red]
Gleichzeitig räumte der griechische Ministerpräsident ein, dass in Gaza „eine große humanitäre Katastrophe stattfindet“. Auf die direkte Frage, ob er dies als Völkermord bezeichnen würde, antwortete er jedoch: „Ich werde diesen Begriff nicht verwenden, denn er hat großes Gewicht.“
Rechtsradikaler Straftäter kommt frei
Schließlich jährt sich diese Woche der traurige Jahrestag der Ermordung des antifaschistischen Musikers Pavlos Fyssas durch Neonazis der kriminellen Organisation Goldene Morgenröte. Vor wenigen Tagen wurde der Vorsitzende der Goldenen Morgenröte, Michaloliakos, aus nicht näher bezeichneten gesundheitlichen Gründen aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er weniger als die Hälfte seiner Strafe verbüßt hatte.“
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Anmerkung von Isabel Armbrust
(1) Zur Erinnerung: Ab den frühen 2000er Jahren haben griechische Politiker, darunter der ehemalige Ministerpräsident Antonis Samaras von der konservativen Nea Dimokratia (ND) mutmaßlich Bestechungsgelder vom Schweizer Pharnaunternehmen Novartis erhalten. Die Ermittlungen wegen dieser Vergehen begannen 2017 unter der Syriza-Regierung – doch die 2019 gestarteten Strafprozesse gegen bestochene Politiker und Ärzte endeten mit Freisprüchen. Die seit 2019 amtierende Regierung von Mitsotakis entließ sogar die ermittelnde Staatsanwältin und verbreitete das Narrativ, sie und Syriza-Politiker hätten versucht, führende Politiker der ND und der Pasok zu kriminalisieren.

