Extreme Mitte und kollektive Verantwortung

Aus The Love Boat, einer US-amerikanischen Fernsehserie der 70er und 80er Jahre

Makis Malafekas*, jacobin.gr 9.8.2025:
„Wenn wir uns den allgemeinen Ansatz der Extremen Mitte [Extremen Zentrums]i in Bezug auf die Idee der kollektiven Verantwortung ansehen, sehen wir, dass sie voll und ohne Skrupel dabei sind – kill ’em all, let god sort ’em out. Wir haben nicht nur das Beispiel Gaza, wo dieser Ansatz von der ersten Stunde an mit der israelischen Rhetorik der „Selbstverteidigung“ zusammenfiel, in deren Namen unterschiedslos alle Palästinenser, Männer, Frauen, Alte, Kinder, Babys, kollektiv für den Angriff vom 7.10.2023 und die Geiselnahme israelischer Gefangener verantwortlich sind. Wir haben nicht nur die zahlreichen, fast täglichen Beispiele für die Schreibereien des extrem-mittigen Journalismus, der, oft königlicher als der König, bei jeder Eskalation des Schreckens (Kappen des Trinkwassers, Bombardierung von Krankenhäusern, Demontage jeder Infrastruktur, sexuelle Folter von Gefangenen, Abfackeln von Zelten, Ermordung von Zehntausenden von Kindern, Zerstörung von Städten, organisierte Hungersnot) mit sadistischer Monotonie nur „Hamas“ und „Rückkehr der Geiseln“ zu sagen hatte und damit 21 blutige Monate lang jeden Tag die vergiftete Vorstellung legitimierte, dass es in Gaza keine unschuldigen Menschen gibt. Wir haben nicht nur die in jeder Hinsicht traurige ästhetische Unterfütterung dieser freudigen Mobilisierung mit Pamphleten von Mainstream-Intellektuellen, Skizzen von dekadenten Karikaturisten usw., die ihr auf römische Weise korrumpiertes Publikum auf das vorbereiten, was sie ihm von Anfang an als moralisch zwingend und operativ unvermeidlich präsentieren: Gaza delenda estii. Das ist noch nicht alles.

Wenn wir in die jüngste Vergangenheit unserer eigenen politischen Geschichte zurückgehen, die wir ja sehr gut kennen, weil wir sie am eigenen Leib erlebt haben und uns mit Namen und Adressen daran erinnern, werden wir feststellen, dass während der gesamten dramatischen Zeit der Memoranden dasselbe Extreme Zentrum, im Grunde dieselben Personen, von Anfang an das öffentliche Narrativ der kollektiven Verantwortung gefördert haben. Für die größte sozioökonomische Katastrophe, die ein westeuropäisches Land seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, mit einer halben Million Griechen, die das Land verlassen haben, um Arbeit zu finden (die meisten von ihnen für immer), mit Armut und Unterernährung, die ein Drittel der Bevölkerung umfasst haben, mit dem massenhaften Verlust bei Renten und Wohnungen, mit Selbstmorden, die von einem Tag auf den anderen um 35 % und die Kindersterblichkeit um 43 % zunahmen, hat die Extreme Mitte von Anfang an dazu aufgerufen, die Ursachen für den wirtschaftlichen Bankrott nicht bei den Regierenden zu suchen, bei den Ministerpräsidenten, Ministern, stellvertretenden Ministern, Staatssekretären, Generalsekretären usw. usw. Sie sollten sie nicht bei der korrupten Wirtschaftselite suchen, deren Daten sogar von den europäischen Kontrollbehörden an die griechische Regierung weitergegeben wurden (siehe die Lagarde-Listeiii), die Regierung, die absolut nichts getan hat – sie hat nur den Computerstick verloren. Nicht irgendwo konkret die Schuld zu suchen, denn ganz einfach, dieses Desaster ist die Schuld von „allen“.

Das „Wir haben es gemeinsam aufgefressen“iv, das wahrscheinlich die Genese der Extremen Mitte in Griechenland ist, der Moment der Abschaffung des Zweiparteiensystems der Macht und die Verdichtung seiner modernisierenden Elemente, ist die DEFINITION der kollektiven Verantwortung, und es ist ein Satz, den sich die herrschende Klasse seither auf die Stirn geschrieben hat für alles, was im Lande krankt, von der Marfinv und dem Aufstieg der Goldenen Morgenrötevi bis zum Zerfall des Gesundheitssystems, der Eisenbahn, der Feuerwehr, etc. etc., wir sind alle schuld – und deshalb haben wir natürlich auch alle die Konsequenzen zu tragen.

Ein weiterer Bereich, in dem die extreme Mitte die Logik der kollektiven Verantwortung unproblematisch anwendet, ist die Migration. Nachdem sie sich die ethnisch-rassische Verschwörungstheorie der großen Verdrängung zu eigen gemacht hat, betrachtet sie Migranten als Eindringlinge in ihrer Gesamtheit und rechtfertigt ihre kollektive Stigmatisierung als kulturverändernde Elemente, die Schaffung von Grenzbollwerken und die Abwehr der Geflüchteten mit allen Mitteln, einschließlich systematischer Pushbacks, die immer häufiger (nachweislich) zum Ertrinken führt – eine Politik der Verteidigung des europäischen Zusammenhalts durch Null-Asyl, Abweisung an den Grenzen und Abschiebung. Die Flüchtlinge, die in der Ägäis, vor Pylosvii und anderswo ertrinken, ertrinken, weil sie kollektiv für etwas verantwortlich sind, das noch nicht stattgefunden hat und das ausschließlich in das Reich der kulturellen Fantasie gehört. Lesen Sie die öffentlichen Erklärungen zu den 800 sudanesischen Migranten, die vor einem Monat Kreta „überschwemmt“ haben, und sehen Sie, wie deutlich der Journalismus der Extremen Mitte wieder einmal das allgemeine Prinzip der kollektiven Verantwortung aufgreift.

Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass die kollektive Verantwortung eines der wichtigsten ideologischen Mottos dieses besonderen politischen Raums ist. Die Extreme Mitte glaubt inbrünstig daran, pflegt es, ist dialektisch süchtig nach seinen vereinfachenden Erklärungsmotiven und wendet es systematisch und entschlossen unter allen Umständen an. Mit einer Ausnahme: dem israelischen Touristen. Da gilt das alles plötzlich nicht mehr, und der Mensch hört auf, sein Kollektiv zu repräsentieren, wird zum Individuum, hat einen Namen, eine persönliche Geschichte, Gefühle, Einzigartigkeit – zu Recht, würden wir sagen. Vielleicht nicht, wenn das erste, was er tut, wenn er sein Kreuzfahrtschiff verlässt, ist, die Flagge seines Staates (sein offizielles kollektives Symbol) zu entrollen und „Tod den Arabern“ zu skandieren (die übrigens eine halbe Milliarde einzigartiger Individuen mit Gefühlen usw. sind); aber auch dieser Mann hat das Recht auf seine Einzigartigkeit, auf die Annahme, dass er nur für seine eigenen Handlungen verantwortlich ist und nicht für Verbrechen, die er – bis zum Beweis des Gegenteils – nicht begangen hat.

Auf jeden Fall ist das Konzept der kollektiven Verantwortung völlig irrelevant für den Aktivismus von Rouviconas im Zentrum von Athenviii, den Kollektiven auf Syros, Rhodos und Lasithiix und den Tausenden von anderen Menschen, die morgen im ganzen Land demonstrieren werdenx. Dies sind im Grunde Akte des kollektiven Erwachens und Akte der bewussten Belästigung von Bürgern Israels, das derzeit Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Und diese Belästigung ist genau dazu da, eine beunruhigende und dringende Frage zu stellen: Unterstützen Sie das Unaussprechliche, das in Gaza geschieht, oder sind Sie dagegen? Wie ist Ihr Standpunkt? (Die Frage ist eigentlich an uns alle gerichtet). Der militante Journalismus der Extremen Mitte instrumentalisiert bewusst das dialektische Motiv der „kollektiven Verantwortung“, um das umgekehrte Narrativ der „Null-Verantwortung“ zu bedienen – Israelis, ob Touristen oder nicht, sind per definitionem unschuldig an dem, was in Palästina geschieht, denn schließlich geschieht in Palästina nichts, was nicht von Palästina selbst verursacht wird, siehe Hamas, Geiseln usw. Mit anderen Worten, eine Rückkehr zu ihrer eigenen ursprünglichen Position bezüglich der kollektiven Verantwortung der Palästinenser.

Die Debatte über die kollektive Verantwortung ist natürlich nützlich, sie ist notwendig. Sie kann innerhalb der Antikriegs- und Antikolonialbewegung geführt werden, sie kann mit den fortschrittlichen Juden der Welt und den Israelis geführt werden, die sich der Politik ihres Landes heldenhaft widersetzen, aber sie kann sicherlich nicht mit den misanthropischen Extremisten der Mitte geführt werden, die es wagen, mit dem Finger zu drohen, mit jenen obersten Anhängern des Prinzips kollektiver Verantwortung, die so weit gehen, dass sie dessen tägliche Anwendung sogar auf den sozialen Körper ihrer Landsleute erwarten.“

* Makis Malafekas ist Schriftsteller. Dieser Text wurde zuerst auf seinem Facebook-Account veröffentlicht.


Übersetzung: Achim Rollhäuser


Anmerkungen

i Mit Extremer Mitte oder Extremem Zentrum bezeichnet man in Griechenland diejenigen, die zur Neuen Demokratie (ND) gehören oder ihr nahestehen. Sie umfasst ein breites Spektrum, das von den Neoliberalen bis zu den Rechtsaußen der ND reicht.

ii Bezug auf den römischen Politiker Cato den Älteren, der jeder seiner Reden im Senat den Satz anfügte, „Im Übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss.“ (Ceterum censeo Carthaginem delendam esse.)

iii Liste mit Steuerflüchtigen

iv Der Satz stammt von dem damaligen PASOK-Minister Pangalos, Anfang 2010.

v Am 5. Mai 2010 starben drei Angestellte der Marfin-Bank in Athen. Es war der Tag eines Generalstreiks. Die Bankleitung hatte die Angestellten aufgefordert, zur Arbeit zu kommen; anderenfalls drohten Konsequenzen. Die Scheiben der Bank wurden eingeworfen und es flog ein Molotov-Cocktail hinein. Die Angestellten starben an den giftigen Dämpfen, die von den in Brand geratenen Computern ausgingen.

vi Griechische Neonazi-Partei, inzwischen verboten und aufgelöst

vii Am 14.06.2023 sind vor Pylos in Westgriechenland über 600 Menschen ertrunken, weil aufgrund von Manövern der Griechischen Küstenwache ihr völlig überladenes Boot kenterte. Anschließend wartete die Küstenwache fast eine Stunde, bis sie mit der Rettung der Überlebenden begann.

viii Der Rouviconas (auf Deutsch: Rubicon – der Name ist eine Anspielung auf den Fluss Rubicon in Mittelitalien, den Cäser überschritt, um die Macht in Rom an sich zu reißen; in diesem Zusammenhang äußerte er die berühmten Worte: „Die Würfel sind gefallen“) ist eine anarchistische Gruppe, die vor drei Wochen eine Demonstration im Athener Zentrum mit einer riesigen Palästinafahne veranstaltete.

ix Auf Syros, Rhodos und in Agios Nikolaos, Präfektur Lasithi auf Kreta, fanden Kundgebungen gegen israelische Tourist*innen statt, die von ihrem Kreuzfahrtschiff aus diese Orte besuchen wollten. Auf Syros drehte das Kreuzfahrtschiff ab, in Rhodos und Ag. Nikolaos bekamen die Tourist*innen Polizeischutz.

x Überall in Griechenland fanden am 10. August Kundgebungen gegen den Völkermord in Palästina statt.

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