Zuerst veröffentlicht in Exantas Heft #39, 2024
Von Leona Balatsiou Adjaye
Griechenland hat noch einen langen Weg vor sich, wenn es darum geht, die vollständige Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen. Die Herausforderungen reichen von Femiziden und Diskriminierung bis hin zur fortlaufenden #MeToo-Bewegung und zur geschlechtsspezifischen Gewalt, insbesondere während der Covid-19-Pandemie, die feministischen Bewegungen im Land neu entfacht haben. Um jedoch einen sicheren Bezugsrahmen für die Analyse und Bewertung des Gleichstellungsdiskurses im Land zu schaffen, ist es wichtig, die historische Entwicklung des Feminismus anzureißen und gleichzeitig auch die Etablierung und Relevanz der Gender Studies an Universitäten zu beleuchten.
Feministische Bewegungen und demokratische Reformen
Kalliroi Parren (1859-1940) gilt als die Begründerin der feministischen Bewegung in Griechenland. Als Journalistin veröffentlichte sie von 1887 – 1917 ihre an eine weibliche Leserschaft gerichtete und ausschließlich von Frauen betriebene Zeitung Ephimeris ton Kyrion [Journal für die Damen]. Parrens Zeitung wurde zum Meilenstein des sozialen Wandels, indem sie sowohl als Informationsmedium diente, als auch progressive Perspektiven in Richtung Gerechtigkeit und Gleichheit der Geschlechter förderte.
Nach dem Fall der Militärdiktatur und während der Übergangsphase zur Demokratie, der sogenannten Metapolitefsi, entstanden, verbunden mit einem allgemeinen soziopolitischen Wandel der griechischen Gesellschaft, autonome Frauenorganisationen und -gruppierungen, die aktiv ihre politische Sichtbarkeit einforderten. Prägend im institutionellen Rahmen für die Gleichstellung der Geschlechter war die bereits 1920 gegründete griechische Vereinigung für Frauenrechte [Syndesmos gia ta Dikaiomata tis Gynaikas/SDG], diewährend der Militärjunta aus Protest ihre Tätigkeiten vorübergehend unterbrochen hatte. Zusätzlich gab es drei große landesweite Frauenorganisationen: die Demokratische Frauenbewegung [Kinisi Dimokratikon Gynaikon/ KDG], die Föderation der Frauen Griechenlands [Omospondia Gynaikon Ellados/ OGE] und die Union der Griechischen Frauen [Enosi Gynaikon Elladas]. 1975 wurde in Athen der erste kollektive Zusammenschluss von politisch unabhängigen Frauen und Mitgliedern außerparlamentarischer linker Organisationen gegründet, und zwar die Bewegung zur Befreiung der Frauen [Kinisi gia tin Apeleftherosi ton Gynaikon/ KAG]. Alle Zusammenschlüsse versuchten, über Parteien und männliche Einflüsse hinaus zu denken und zu handeln. Sie vertraten die Auffassung, dass die Selbstorganisation von Frauen in autonomen Gruppierungen eine Voraussetzung für feministische Politik sei.
Mit den Regierungen unter der PASOK (Panhellenische Sozialistische Bewegung) beginnt der Staat, jahrelange feministische Bemühungen anzuerkennen. Dem Feminismus der Metapolitefsi gelang es also, trotz noch bestehender Ungleichheiten auf institutioneller Ebene Gleichstellungsgesetze durchzusetzen. Nach der Einführung des Frauenwahlrechts (1952) folgte 1983 eine progressive, reformierte Familiengesetzgebung, welche die Gleichstellung der Geschlechter in der Ehe vorsah, die Mitgift abschaffte, das Scheidungsrecht erweiterte, den Ehebruch entkriminalisierte und den Kindern unverheirateter Eltern gleiche Rechte im Verhältnis zu ehelichen einräumte. In den späten 1970er und 1980er Jahren gab es einen Anstieg feministischer Zeitschriften und studentischer Gruppen an diversen Universitätsfakultäten. Die KAG begann, die Zeitung Für die Befreiung der Frauen [Gia tin Apeleftherossi ton Gynaikon] zu veröffentlichen, ähnlich der Zeitschrift Skoupa [Besen]. Frauenhäuser, Buchläden, Cafés, Demonstrationen, Plakate, Flugblätter boten den Raum, Ideen und Perspektiven zu kultivieren und zu verbreiten. Zudem gab es die Tendenz, sich der Wissenschaft zuzuwenden, um die kritische Analyse und die Erforschung von Machtverhältnissen und Wissensproduktionen zu analysieren. 1986 wurde die Abtreibung legalisiert. Seit den 1990er Jahren ist jedoch eine Phase der Stagnation und der Krisen zu verzeichnen: viele autonome Gruppen beginnen allmählich sich aufzulösen, feministische Zeitschriften werden eingestellt, relevante Institutionen und Finanzierungen werden zurückgezogen, und die Teilnahme an Frauendemonstrationen nimmt deutlich ab. Die globale Finanzkrise (2008), die nachhaltig traumatisierenden Troika-Maßnahmen (2010) und die verschärfte „Flüchtlingskrise“ (2015) hatten polarisierende Auswirkungen auf die Frauenbewegung. Einerseits führten sie zu einer verstärkten Kritik am Patriarchat, verbunden mit Kapitalismuskritik und dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung. Andererseits förderten diese Ereignisse die Kultivierung ultrakonservativer Diskurse, die Entfachung des Antifeminismus und die Verbreitung entsprechender Narrative. Die siebzehn Fälle von Femizid im Zeitraum 2021 – 2024 sprechen für sich.
Ein in Mytilini aufgedecktes grausames Verbrechen löste Schockwellen aus: eine 40-jährige Frau fiel einem „Verbrechen aus Leidenschaft“ zum Opfer (Enimerosi24.gr). Diese Formulierung, die immer noch in Medienberichterstattungen verwendet wird, steht exemplarisch für eine problematische mediale Aufbereitung, die tödliche Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen im Kontext von Sexismus mit irreführenden Euphemismen betitelt, wie „Verbrechen aus Leidenschaft“, „Familiendrama“ oder kulturalisierende Darstellungen wie „Ehrenmorde“. Solche Begrifflichkeiten spiegeln eine tief verwurzelte gesellschaftliche Wahrnehmung wider, die nicht nur den Tätern moralische Rechtfertigung bietet, sondern auch die Gewalt verharmlost. Wir lesen oft: „Er tötete sie aus Liebe“. Diese Art von Berichterstattung leistet einem System Vorschub, gewalttätige Handlungen gegen Frauen unter dem Deckmantel der Liebe, der Eifersucht oder der Ehre zu rechtfertigen, anstatt sie als das zu benennen, was sie sind: Ausdrücke extremer geschlechtsspezifischer Gewalt und Auswüchse einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur und strukturellen Sexismus.
Auch die 2017 in den USA entfachte #MeeToo-Bewegung hat Griechenland erreicht, ausgelöst durch die mutige Olympiasiegerin im Segeln Sofia Bekatorou Anfang 2021. Sie brach das Schweigen, indem sie einen hochrangigen Funktionär des griechischen Segelverbands beschuldigte, sie 1998 in einem Hotelzimmer sexuell belästigt zu haben. Daraufhin kamen Dutzende von Frauen und Männer mit eigenen Missbrauchsvorwürfen an die Öffentlichkeit, insbesondere aus dem Bereich Sport, der Kultur- und Unterhaltungsbranche und schlossen nicht zuletzt die schwerwiegenden Vergewaltigungsvorwürfe gegen Dimitris Lignadis, den ehemaligen Intendanten des griechischen Nationaltheaters, ein. Frauen beginnen öffentlich zu sprechen.
Wozu Gender Studies?
Die Ursprünge der Gender Studies lassen sich auf die Women’s Studies [Frauenforschung] zurückführen, die in den USA in den 1960er und 70er Jahren entstanden sind. Diese entfalteten sich aus der politisch motivierten Frauenbewegung des späten 19. Jahrhunderts, die sich für die Rechte von Frauen einsetzte, wobei hier vor allem weiße Frauen im Fokus standen.1 Ein zentraler Grundsatz der Gender Studies ist das Verständnis von Geschlechterrollen und -verhältnissen als kulturelle, historische und gesellschaftliche Konstrukte. Dieser Ansatz hat seinen Ursprung in der dritten Welle der Frauenbewegung.
Im deutschen Sprachgebrauch gibt es kein direktes Äquivalent für das englische Wort „gender“ in seiner soziokulturellen Bedeutung im Gegensatz zum biologischen Geschlecht („sex“). Simone de Beauvoirs Studie „Das andere Geschlecht“, die 1949 in Frankreich erschien, gilt als Pionierwerk der Gender Studies. Diese Studie war die erste sozialwissenschaftliche Untersuchung, die zwischen biologischem Geschlecht und kultureller bzw. sozialer Prägung von Geschlecht unterschied.
In den 1990er Jahren wurde die Unterscheidung von „sex“ und „gender“, die die vermeintliche Natürlichkeit von Geschlecht in Frage stellt, problematisiert. Die amerikanische Philosophin Judith Butler erklärte, angelehnt an den französischen Poststrukturalisten Michel Foucault, auch das anatomische Geschlecht zu einer sozialen Konstruktion. Obwohl Naturwissenschaften darüber entscheiden, welche Organe für welches anatomische Geschlecht relevant sind, reproduzieren sie trotz des Objektivitätsanspruchs herrschende kulturelle Normen und zementieren die bestehenden Geschlechterverhältnisse. Butler argumentiert, dass selbst die Anatomie ein soziales Konstrukt sei, das die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und somit die Geschlechterordnung festigt.
Seit den 1970er Jahren begannen Forscher*innen auch im deutschsprachigen Raum sich systematischer mit Geschlechterverhältnissen zu beschäftigen. Einer der ersten Studiengänge für Gender Studies in Deutschland wurde zum Wintersemester 1997/98 an der Humboldt- Universität zu Berlin angeboten. Inzwischen gibt es insgesamt 21 Orte und 25 Hochschulen, die den Studiengang anbieten.
Gender Studies zeichnen sich durch einen ganzheitlichen Ansatz zum Thema Geschlecht aus. Es werden grundlegende Kenntnisse, Methoden und Arbeitstechniken vermittelt, um Geschlechterverhältnisse, Diskriminierungen und Privilegierungen in verschiedenen sozialen, kulturellen, historischen und politischen Kontexten zu untersuchen. Das Studium betrachtet Geschlecht als interdependent, da es in Zusammenhang mit anderen Kategorien „Race“, Ethnizität, sozialer Positionierung, Sexualität, Religion, Befähigung oder Alter analysiert wird. Das Studium ist interdisziplinär aufgebaut und integriert verschiedene Ansätze aus verschiedenen Fakultäten. Im Grunde genommen sind Gender Studies wissenschaftskritisch intervenierend. Durch die kritische Analyse von Geschlecht werden neue Erkenntnisse gewonnen, die wiederum Einfluss auf die Wissenschaft und andere Wissenskontexte haben. Dabei soll das Studium dazu befähigen, komplexe Fragen im Zusammenhang mit Geschlecht, Macht, Diskriminierung und Privilegierung zu verstehen und kritisch zu analysieren, was wiederum für Tätigkeiten in verschiedensten Bereichen qualifiziert.
Gender Studies an griechischen Universitäten
In Griechenland hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Thematiken rund um das Geschlecht sukzessive den Weg in die akademische Landschaft gefunden. Die ersten wissenschaftlichen Bemühungen manifestierten sich in Form von Dissertationen, wobei ein besonderer Fokus auf der Erforschung der Frauengeschichte lag. Konzepte wie Mutterschaft, Familie, Pflegearbeit und Feminismus wurden besonders hervorgehoben. Die institutionelle Umstrukturierung des griechischen Universitätswesens hatte entscheidenden Einfluss auch auf die Lerninhalte und die Stellenpolitik.2
In den 1990er Jahren erlebten insbesondere die Geisteswissenschaften signifikante Neuerungen, die größtenteils von Professorinnen vorangetrieben wurden. Viele dieser Akademikerinnen waren in den 1970er Jahren Mitglieder linker feministischer Gruppierungen.
Der Versuch, Frauen- und Geschlechterstudien in Griechenland zu etablieren, wurde insbesondere durch eine Richtlinie der Europäischen Union und Empfehlungen der UN im Jahr 2000 gefördert, wonach ein Teil der Finanzierung für die Unterstützung von Frauen in Bachelor- und Masterstudiengängen sowie für die Entwicklung von Studien- und Forschungsprogrammen für Frauen vorgesehen war.3 Insgesamt wurden 43 solcher Projekte an Universitäten und technischen Hochschulen finanziert, die in folgende Kategorien unterteilt sind: Postgraduale Studiengänge zu Geschlechter- und Gleichstellungsfragen mit Schwerpunkt auf Geschlecht und Bildung (Aristoteles-Universität, Thessaloniki), Schwerpunkt auf Geschlecht in Bezug auf soziale Anthropologie (Universität der Ägäis, Mytilini), Schwerpunkt auf Geschlecht und Religion (Nationale und Kapodistrias-Universität, Athen). Für Studiengänge und wissenschaftliche Programme zu Geschlechter- und Gleichstellungsfragen waren acht Projekte vorgesehen.4 Ziel der neu eingeführten Programme war, die Modifizierung von bereits bestehenden Studienseminaren und eine analytische Genderperspektive in verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen einzubeziehen und zu berücksichtigen.
Die neu eingeführten Programme umfassten einen zyklischen Ablauf, der zeitlich begrenzt war. Das Interesse und die Beteiligung der Studierenden waren jedoch gering. Es fehlten Ressourcen, denn die Dozierenden waren mit Jahresverträgen ausgestattet, trotz der anfänglichen Zusage des Bildungsministeriums, dauerhafte Stellen an den Universitäten für diese Programme einzurichten. Die institutionellen Rahmenbedingungen der Universitäten untergruben die Interdisziplinarität, die wegen des strukturellen Mangels an interdisziplinären Ansätzen das Wesen der Geschlechterstudien ausmacht. Die meisten Programme für Gender Studies endeten 2008 mit dem Auslaufen der EU-Finanzierung. Die Etablierung und Institutionalisierung der Geschlechterstudien im griechischen Hochschulsystem über die EU-Finanzierung hinaus wurden nicht erreicht. Dennoch gab es einige positive Auswirkungen wie die Bereicherung der Universitätsbibliotheken durch Literatur zu Geschlechterthemen sowie die teilweise Überarbeitung der Lehrpläne verschiedener Fachbereiche durch die Einführung geschlechtsspezifischer Perspektiven.
Im Jahr 2007 führte die Gründung der Historians for Research in History of Women and Gender des griechischen Komitees der International Federation for Research in Women’s History (IFRWH) zu bedeutenden Fortschritten. Diese Forscherinnengruppierungen initiierten Online-Rundtischgespräche, die einen gegenseitigen Austausch zwischen Universitätsprofessorinnen und Frauen aus verschiedenen Fachbereichen ermöglichten, die an einem Verständnis der geschlechtsspezifischen Dimension der Vergangenheit interessiert sind.
Was die Ausrichtung der Geschlechterstudien in Griechenland von der in Deutschland unterscheidet, ist, dass die Umsetzung dieser Studienrichtung an griechischen Universitäten stärker einer sozialpolitischen Ausrichtung folgt. Sie manifestiert sich in Programmen und Seminaren, ohne jedoch als eigenständige akademische Disziplin formal etabliert zu sein. Trotzdem spielen diese Bildungsangebote eine entscheidende Rolle bei der Erweiterung des akademischen Diskurses und der Sensibilisierung für Geschlechterthemen. Es besteht allerdings weiterhin Bedarf an strukturellen Entwicklungen, um die Geschlechterstudien in Griechenland institutionell zu verankern und ihre gesellschaftlichen sowie akademischen Einflüsse zu verstärken.
Gendergerechte Sprache findet auch im Griechischen Anklang
„Was ist das, was wir als neutrale und inklusive Sprache bezeichnen? Wir werden versuchen, den Begriff im Zusammenhang mit dem Versuch zu beleuchten, so gut wie möglich […] einen Sprachgebrauch zu kultivieren, der im Grunde eine Gerechtigkeit gegenüber den Geschlechtern und sozialen Klassen gewährleistet, der nicht zugunsten des einen oder des anderen, des biologischen oder des sozial konstruierten Geschlechts diskriminiert und im Wesentlichen keine Einschränkungen darstellt. Denn wenn wir diskriminieren, bauen wir Mauern auf, die verhindern, dass wir miteinander kommunizieren können.“ 5
2008 hat das Europäische Parlament mehrsprachige Leitfäden für die Förderung und Verwendung von geschlechtsneutraler Sprache veröffentlicht und diese Leitfäden zehn Jahre später aktualisiert. Auch das Europäische Parlament hat sich dazu verpflichtet, in jeder schriftlichen oder mündlichen Kommunikation eine geschlechtsneutrale Sprache zu verwenden, unter Berücksichtigung der politischen und sozialen Realität.
An zahlreichen deutschen Hochschulen ist die Anwendung geschlechtsneutraler Formulierungen in der offiziellen Korrespondenz sowie bei Prüfungen mittlerweile obligatorisch. Diese Entwicklung verdeutlicht die zunehmende Bedeutung und Anerkennung geschlechtersensibler Sprache im Bildungswesen. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Richtlinien bezüglich der Nutzung oder des Verbots des Genderns in Deutschland auf Bundesebene unterschiedlich sein können. Ein Beispiel dafür ist das in Bayern geregelte Verbot der geschlechtssensiblen Sprache in Schulen, Hochschulen und Behörden. Trotz solch bedauerlicher Rückschritte ist der Fortschritt in Richtung inklusiver Sprache unübersehbar.
Die zunehmende Akzeptanz geschlechtsneutraler Sprache ist nicht nur im Deutschen, sondern auch im Griechischen zu beobachten und spiegelt eine sprachliche Ausdrucksform des gesellschaftlichen Wandels wider. Diese Entwicklung ist nicht als eine „erzwungene Erneuerung“ der Sprache zu verstehen, sondern vielmehr als ein Zeichen eines offenen und toleranten Miteinanders. Hierdurch sind alle Personen (mit)gemeint, ohne dass sie ausschließlich auf das generische Maskulinum reduziert werden. Das generische Maskulinum führt zu einer Unterrepräsentation und Unsichtbarkeit von Frauen in der Sprache und folglich auch in der Gesellschaft. Dabei sind nicht nur Frauen betroffen, sondern auch Menschen mit anderen Geschlechtsidentitäten. Die sprachliche Anpassung und das Gendern haben somit eine bedeutende Auswirkung auf unsere Sprache, unser Denken und unsere Wahrnehmung. Eine inklusive Sprache ist ein Zeichen von Höflichkeit, Respekt und Anerkennung.
Im Deutschen gibt es verschiedene Möglichkeiten, eine inklusive und geschlechtsneutrale Schreibweise zu verwenden, zum Beispiel durch die Aufzählung (Studentinnen, Studenten), die Verwendung von geschlechtsneutralen Ausdrücken (Lehrende, Fachkräfte, Team) oder die Verwendung von mehrgeschlechtlichen Schreibweisen mit einem Sonderzeichen, wie dem Gendersternchen (Mitarbeiter*innen), Doppelpunkt (Mitarbeiter:innen), Unterstrich (Mitarbeiter_innen) und dem Schrägstrich (Mitarbeiter/innen). Dabei sind der Genderstern und der Doppelpunkt mittlerweile die am meisten genutzten Optionen.
Im Griechischen stellt die Anwendung geschlechtergerechter Sprache eine besondere Herausforderung dar, da die Sprache stark geschlechtsspezifisch ist. Das bedeutet, dass nicht nur Substantive, sondern auch Adjektive, Artikel und Pronomen nach dem Geschlecht differenziert werden. Trotz dieser Herausforderungen existieren diverse Ansätze, um eine inklusivere Sprachverwendung zu fördern, die je nach Kontext und (grammatikalischen) Möglichkeiten angewandt werden können:
- Im Griechischen wird das Wort „άνθρωπος“ (Mensch), obwohl es grammatikalisch männlichen Geschlechts ist, allgemein verwendet, um Personen jeglichen Geschlechts zu bezeichnen. Dies ermöglicht den Gebrauch historisch etablierter Begriffe wie „δικαιώματα του ανθρώπου“ (Menschenrechte). Ähnlich verhält es sich mit Substantiven wie „το πρόσωπο“ (Person), „η ομάδα“ (Team) und „η κοινότητα“ (Gemeinschaft), die geschlechtsneutral verwendet werden und sich auf Individuen oder Gruppen ohne spezifische Geschlechtszuweisung beziehen.
- Die Verwendung geschlechtsneutraler Pluralformen: So werden aus „καθηγητής“ (Lehrer) und „καθηγήτρια“ (Lehrerin) die allgemeine Bezeichnung „εκπαιδευτικοί“ (Lehrkräfte), „νοσηλευτής“ (Pfleger) und „νοσηλεύτρια“ (Pflegerin) verschmelzen zu „νοσηλευτικό προσωπικό“ (Pflegepersonal) und „Γάλλοι“ (Franzosen) sowie „Γαλλίδες“ (Französinnen) werden unter dem Begriff „γαλλικός λαός“ (französische Bevölkerung) zusammengefasst.
- Die Nutzung der Passivform erleichtert einen geschlechtsneutralen Sprachgebrauch. Statt „ο πρόεδρος διαβιβάζει τα έγγραφα στις αρμόδιες υπηρεσίες“ (Der Präsident leitet die Unterlagen an die zuständigen Dienststellen weiter) wird nun „τα έγγραφα διαβιβάζονται στις αρμόδιες υπηρεσίες“ (die Unterlagen werden den zuständigen Dienststellen übermittelt).
- Die Verwendung von Doppelnennungen oder Schrägstrichen, wie z.B. „ο/η διευθυντής/τρια“ (der/die Direktor/in), „ο/η καθηγητής/τρια“ (der/die Professor/in), „οι φοιτητές/τριες“ (die Studierenden), „οι εργαζόμενοι/ες“ (die Beschäftigten)
- Die Verwendung geschlechtsneutraler Pronomen und Artikel im Plural: z.B. „αυτοί/ές/ά“ (sie), „τους/τις/τα“ (ihnen), „των“ (ihrer) usw.
- Vermeidung von Ausdrücken mit sexistischer Konnotation: Statt „πατροπαράδοτες συνταγές“ (wörtlich übersetzt: väterlich überlieferte Rezepte) könnte „παραδοσιακές συνταγές“ (traditionelle Rezepte) verwendet werden. Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass das Kochen und die Rezepterstellung im traditionellen Sinne hauptsächlich in den Aufgabenbereich der Frauen fielen. Daher wäre es treffender, sie als „μητροπαράδοτες συνταγές“ zu bezeichnen, was so viel bedeutet wie „von Frauen/ Müttern überlieferte Rezepte“.
- Ebenso empfiehlt sich anstelle von „υιοθεσία“ (υιοθεσία ist zusammengesetzt aus zwei Teilen: „υιός“ (Sohn) und „θεσία“ (vom Verb θέτω, setzen, legen, stellen) der Begriff „τεκνοθεσία“ (Adoption).
Die Diskussion über die Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache betrifft nicht ausschließlich die Sprache selbst, sondern vielmehr den Gebrauch und unsere individuelle Anwendung. Es sind die Konnotationen, die wir den Wörtern zuschreiben, und die Kontexte, in denen wir sie verwenden, die die Problematik bestimmen. Es ist entscheidend, die Stärke und Macht eines Wortes sowie seine ideologische Aufladung aufzudecken.
Gleichzeitig existieren Berufsbezeichnungen wie „πυροσβέστης“ (Feuerwehrkraft), „μαία“ (Hebamme) und „αεροσυνοδός“ (Flugbegleitung), für die bislang keine allgemein anerkannten geschlechtsneutralen Alternativen etabliert sind. Eine Möglichkeit besteht darin, Berufe durch neutralere Begriffe zu umschreiben, wie etwa „Reinigungsfachkraft“ („προσωπικό καθαρισμού) anstelle von „Putzfrau“ („καθαρίστριες“) und Pflegefachkraft („νοσηλευτικό προσωπικό“) statt Krankenschwester („νοσοκόμες“).
Parallel zum englischen nicht-binären Pronomen they/them ist es im Griechischen schwierig, eine geschlechtsneutrale Ansprache zu finden. Das neutrale “το” wird normalerweise für Gegenstände und abstrakte Konzepte verwendet, nicht jedoch für Personen. Daher gibt es keine direkte Entsprechung für ein geschlechtsneutrales Pronomen.
Eine recht neue Entwicklung ist auch die Verwendung des „@“- Zeichens im Griechischen. Zum Beispiel kann aus „φίλος“ (Freund) und „φίλη“ (Freundin) die geschlechtsneutrale Form „φίλ@ς“ gebildet werden, um eine Person jeglichen Geschlechts zu bezeichnen. Das „@“ am Wortende ist Teil einer Bemühung, die Sprache inklusiver zu gestalten und Menschen verschiedener Geschlechteridentitäten und mit nicht-binären Geschlechtsidentitäten gerecht zu werden und anzuerkennen. Durch die Verwendung des @“-Symbols wird die männliche und weibliche Endung zusammengeführt bzw. abgekürzt, was es sowohl für den Singular als auch den Plural einsetzbar macht. Diese Methode stößt allerdings auf praktische Schwierigkeiten, da ihr eine phonetische Entsprechung fehlt und sie aufgrund ihres Interpretationsfreiraums zu Verständnisproblemen führen kann. Hinzu kommt, dass diese Schreibweise (noch) keine offizielle Anerkennung gefunden hat und vorwiegend in informellen Kontexten wie sozialen Medien und im öffentlichen Diskurs Anwendung findet.
„Die Sprache ist trans. Sie ist ein lebendiger Organismus, der ständig rebelliert, umwirbt und sich verändert. Das Beispiel des „Greeklish“ kennen wir mittlerweile aus den sozialen Medien, ebenso wie Dialekte und Kaliardà.6 Dennoch trainiert Sprache den Geist und den Körper und prägt somit unser Verhalten. Ich glaube, dass die heutige Sprache die inklusivste der letzten Jahrzehnte ist, aber gleichzeitig hat sie auch Verfeinerung erfahren.“7
Zwischen Meilenstein und Rückschritt: Ein Reality Check
Mitte Februar hat das griechische Parlament als erstes in einem mehrheitlich christlich-orthodoxen Land der Einführung der standesamtlichen Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zugestimmt. Wenige Wochen später, Anfang März, wurden im Zentrum der Metropole Thessaloniki auf der Platia Aristotelous zwei transsexuelle Personen von einer Gruppe von etwa 150 – 200 schwarz gekleideten Personen verfolgt und verbal angegriffen. Diese Vorfälle ereigneten sich zeitgleich mit dem Dokumentarfilmfest „Citizen Queer“, das LGBTQ+-Themen gewidmet war.
Die Tatsache, dass ausgerechnet die konservative Regierung trotz des Widerstands der orthodoxen Kirche, rechtsextremer Parteien im Parlament und einiger eigener Parlamentsmitglieder eine liberale Reform durchsetzt, wirft die Frage auf, ob diese Entscheidung intrinsisch motiviert ist oder politisch instrumentalisiert wird. Auch wenn der Gesetzesentwurf verbesserungsbedürftig ist (da nach wie vor kein Recht auf künstliche Befruchtung besteht und Leihmütter für die Austragung verboten sind), stärkt Premierminister Kyriakos Mitsotakis mit diesem Gesetzesentwurf sein liberales und progressives Profil. Griechenland ist somit das 16. EU-Land, das Gesetze zur Gleichstellung der Ehe erlassen hat.
Trotz vieler fortschrittlicher Entwicklungen begegnen wir weiterhin und sogar in zunehmendem Maße antifeministischen, anti-LGBTQ+- und Anti-Gender-Diskursen. Die Hoffnung besteht weiterhin fort, dass gesetzliche Veränderungen zu einem Wandel der gesellschaftlichen Haltung führen werden.
Quellen
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Aristotle University of Thessaloniki: Gender Equality Plan. https://www.auth.gr/en/gender–equality–plan–en/
Γερονικολός, Οδυσσέας. Athens Voice. (2023). Υπάρχει γλώσσα για την κατάρρευση της γλώσσας; https://www.athensvoice.gr/life/tehnologia-epistimi/828970/uparhei-glossa-gia-tin-katarreusi-tis-glossas/
Bali, Kaki (2021). #MeToo auf Griechisch. Deutsche Welle.
https://www.dw.com/de/olympiasiegerin-sofia-bekatorou-klagt-an-metoo-auf-griechisch/a-56298460
Butler, Judith. (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Council of the European Union. (2000). Council Directive 2000/78/EC of 27 November 2000 establishing a general framework for equal treatment in employment and occupation. Official Journal of the European Communities, 43, pp. 0016 – 0022. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:32000L0078
Γιάνναρου, Λίνα. (2022). Kathimerini. Σοφία Μπεκατώρου: Μαρτυρίες-σοκ στο #MeNow_MeToo: https://www.kathimerini.gr/world/561702004/sofia–mpekatoroy–martyries–sok–sto–menow_metoo/
Γεωργιοπούλου, Τάνια. (2022). Kathimerini.Gr. Είστε σίγουρ@ ότι η γλώσσα χρειάζεται φύλο. https://www.kathimerini.gr/society/562048456/eiste-sigoyr-oti-i-glossa-chreiazetai-fylo/
ERTecho. (2024). Σε δι@δραση με την Αρετή Μπίτα. https://www.ertecho.gr/radio/proto/show/se-diadrasi/ondemand/615866/se-di-drasi-me-tin-areti-mpita-03032024/
European Institute for Gender Equality. (2023). Gender Equality Index. https://eige.europa.eu/gender-equality-index/2023/country/EL
Ευρωπαϊκό Κοινοβούλιο: ΟΥΔΕΤΕΡΗ ΩΣ ΠΡΟΣ ΤΟ ΦΥΛΟ ΓΛΩΣΣΑ στο Ευρωπαϊκό Κοινοβούλιο: https://www.europarl.europa.eu/cmsdata/187093/GNL_Guidelines_EL–original.pdf
Foundation Parliament.Gr. Afronomes Omades. https://foundation.parliament.gr/sites/default/files/2020-07/aftonomes%20omades_EN%20s_0.pdf
Gianna Katsiampoura (2012). Gender Studies in the Greek University: from the feminist movement to the official curriculum. in K. Skordoulis, D.Hill, Critical Education, INR-NHRF/Nissos, Athens pp. 223-230.
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Langer, Sarah (2024). Gendern: Eine Chance für die Gleichberechtigung oder nur sinnlose Sternchen? National Geographic. https://www.nationalgeographic.de/geschichte–und–kultur/2024/03/gendern–eine–chance–fuer–die–gleichberechtigung–oder–nur–sinnlose–sternchen
League for Womens Rights.Gr. Σύνδεσμος για τα δικαιώματα της Γυναίκας.
Ίσα δικαιώματα – Ίσες υποχρεώσεις. https://leagueforwomenrights.gr/
Νυχτολέας, Φώτης. (2023). Σταγόνα. Το ουδέτερο, το @ και εμείς: Μία συζήτηση για τη συμπεριληπτική γλώσσα. https://stagona4u.gr/index.php/component/k2/item/13411-the-neuter-the-and-we-a-discussion-of-inclusive-language
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1 Ab den 1980er Jahren wurde von den USA ausgehend die Kritik an einem zu weißen, zu eurozentristischen Feminismus geäußert. Unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen von Frauen rückten stärker in den Fokus.
2 In dieser Zeit wurden neue Hochschuleinrichtungen gegründet, darunter die Universität Kreta, die Universität der Ägäis und die Ionische Universität. Bestehende Universitäten erweiterten ihr Angebot durch die Einführung neuer Fachbereiche und entsprechender Kurse.
3 Programs for the Support of Women in Undergraduate and Postgraduate Studies and Studies Programs and Research Programs for Women (OPEPPTT).
4 Ebenfalls an der Kapodistrias-Universität Athen, Aristoteles Universität Thessaloniki, an der Panteion-Universität Athen, Universität der Ägäis, an der Universität Kreta und weiteren.
5 Nikoleta Tsitsanoudi-Mallidi, Professorin für Linguistik und Griechische Philologie an der Universität Athen (EKPA), Proto Programma 92,6-105,8, „Σε δι@δραση με την Αρετή Μπίτα“, 03.03.2024, 00:29:42- 00:30:19.
6 Kaliardà ist ein Jargon, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Athen und anderen Städten entstand, um eine Geheimsprache für marginalisierte LGBTQ+-Personen zu etablieren.
7 Erofili Kokkali (Transgender- Autorin und Schauspielerin) im Gespräch mit Kostantinos Konstantopoulos, Mοchi Georgiou und Fivos Panagiotidis.


