Treffen mit Apostolos Kapsalis: „Der große Exodus“

Apostolos Kapsalis und eines seiner Bücher

Der bekannte Arbeitsrechtler Apostolos Kapsalis beklagt, dass es in Griechenland nicht nur ein neoliberales Regime gibt, sondern dass die Gesellschaft sich neoliberalisiert hat. Seiner Meinung nach befindet die Arbeiterbewegung sich sehr stark in der Defensive.

Broschüre der gewerkschaftlichen Solireisegruppe:
„Treffen mit Apostolis Kapsalis: „Der große Exodus“
Apostolis ist ein alter Bekannter unserer Soligruppe. Über ihn bekamen wir 2012 die
ersten Kontakte zu Gewerkschaften und Aktivisten. Er ist u.a. Assistenzprofessor an der
Panteion Universität und Arbeitsrechtsanwalt. Er arbeitet besonders zu Gewerkschaftsund
Arbeitsrechten, arbeitete lange mit dem Gewerkschaftsdachverband für den Öffentlichen
Dienst zusammen, bis dieser ihn wegen seiner Analysen kaltstellte.
Er erinnert sich an unser letztes Treffen 2021 und meint, seither habe sich viel verändert.
Griechenland sei das Land in Europa, das am meisten von Veränderungen zum
Schlechteren betroffen sei. Griechenland sei an einem kritischen Punkt. Das neoliberale
Dogma habe sich durchgesetzt. Einmal politisch mit der Nea Demokratia (ND) als Regierungspartei.
Zum anderen und schlimmer, die Gesellschaft habe sich neoliberalisiert.
Bis zur Pandemie sei die Durchdringung nicht so tiefgreifend gewesen wie jetzt. Diese
Durchdringung beziehe sich auch auf die „Liberalisierung“ der Arbeitsrechte und der
Arbeitswelt.
Rechts von der ND gebe es ein rechtsradikales Spektrum von etwa 20% Wählerstimmen,
und das, obwohl die Führungsfiguren der faschistischen „Goldenen Morgenröte“ im
Gefängnis sitzen.
2020/21 gab es eine Diskussion über „das große Aufgeben“, d.h. dass man den Widerstand
aufgibt gegen die neoliberale Zerstörung.
Zum ersten Mal, soweit er das überblicken könne, verließen Menschen den Öffentlichen
Dienst, weil sie mit den Löhnen nicht mehr auskommen! Dabei war das immer ein
griechischer Traum: Sicherheit im Öffentlichen Dienst. Ein anderes Beispiel: Studierende
wandern vor dem Examen aus.

Die jetzige Phase bezeichnet er als die Phase des „Großen Exodus“.
Dieser zeige sich sowohl physisch als auch politisch.
a) physisch.
Die Auswanderung zwischen 2011 und 2021 betrug 650 000 Menschen. Etwa die Hälfte
sind junge, gut ausgebildete GriechInnen, die zweite Hälfte MigrantInnen, die in
Griechenland 20 bis 30 Jahre gearbeitet hatten; viele davon aus Albanien, Handwerker,
die vielfach auf dem Bau gearbeitet hatten, wo jetzt ein großer Mangel herrscht.
Seit 2022 hat die Auswanderung zugenommen, 2023 alleine ca. 160 000. Insgesamt seit
2011 etwa eine Million (von etwa elf Millionen 2011). Schätzungen gehen davon aus,
dass 2050 in Griechenland noch sieben Millionen leben werden.
Dazu kommt die Landflucht in die Städte und von den Regionalstädten nach Attika
(die Region Athen und Umland), wo jetzt schon 50% der Bevölkerung leben. Das Land
stirbt aus.
Griechenland sei europaweit am stärksten vom Klimawandel betroffen: Es hat die größte
Fläche an verbrannter Erde (absolut und relativ), dazu kommen die größten zerstörten
Überschwemmungsflächen. Zwischen 20 und23 gab es innerhalb Griechenlands
300.000 Klimaflüchtlinge. Die Brände von 2024 sind noch gar nicht mitgezählt.
Aktuell wüte bei Korinth eine Feuerfront von 35 km Länge. Die Zahlen stammten alle
von europäischen Instituten, da es in Griechenland dazu keine Institute gebe. Die Toten
durch Brände und Überschwemmungen werden nicht gezählt.
Dieses Jahr sei der heißeste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, europaweit
gibt es hier den Trockenheitsrekord. Griechenland zähle weltweit zu den trockensten
Regionen.
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b) politisch
Er sei jetzt 50 Jahre alt, seit er 15 war, sei er politisch aktiv. Aber so etwas wie dieses
Jahr habe er noch nicht erlebt: kein Widerstand! Es gibt zwar vereinzelt Widerstand,
aber niemand glaube an eine grundsätzliche Änderung. Der autoritäre Neoliberalismus
habe sich seit 2010 endlich durchgesetzt, TINA hat gewonnen (Thatcher: There Is No
Alternative, Es gibt keine Alternative). Noch schlimmer sei die Stimmung. Lohnt es sich
überhaupt nach Alternativen zu suchen?
Ein Beispiel seien die Gewerkschaften, Arbeitsrechte, Tarifrechte. Griechenland nehme in
der EU den letzten Platz ein, was Tarifvereinbarungen betreffe. Z.B. seien in Skandinavien
100% der Beschäftigten tarifgebunden, in Deutschland 50%, in Griechenland zehn
Prozent. D.h. neun von zehn Beschäftigten in Griechenland arbeiten ohne Tarifvertrag
und Arbeitsrechte, haben lediglich individuelle Arbeitsbedingungen.
Der Mindestlohn liegt bei 830 EUR brutto (ca. 3,50 EUR/Stunde), ca. 750 EUR netto. Es
gibt keine Aufstockung wie in Deutschland. Die Durchschnittsrente liegt bei 750 EUR
netto (auch hier keine Zuschüsse).
Die Normalarbeitszeit liegt bei 40 Stunden, die reale Arbeitszeit liegt aber weit darüber,
da viel schwarz gearbeitet wird. Viele arbeiten mit Teilzeitverträgen, müssen aber
schwarz darüber arbeiten ohne Vergütung.
Wo gibt es Tarifverträge? Nicht im Öffentlichen Dienst! Das einzige Land in Europa
ohne Tarifverträge im Öffentlichen Dienst, seit 200 Jahren. Tarifverträge gibt es in
Kommunen, Banken, privatisierten öffentlichen Unternehmen. Ca 14% der Beschäftigten
arbeiten unter dem Mindestlohn.
Die Gewerkschaftsbindung ist europaweit die niedrigste, offiziell seien es 10 %, im öffentlichen
Bereich 25%, im privaten etwa drei Prozent.
Nächste Woche habe er ein Gespräch bei der Telekom, die etwa 10 000 Beschäftigte
habe, davon seien etwa 5-600 in der Gewerkschaft.
Bei Lieferdiensten, NachhilfelehrerInnen, im privaten Gesundheitsbereich seien null
Prozent organisiert bei harten Arbeitsbedingungen. Die Basisgewerkschaften, die in
diesen Bereichen existieren, werden statistisch nicht erfasst, da sie nicht zu den beiden
Dachverbänden gehören. In großen Hotel- und Restaurantketten gibt es etwas gewerkschaftliche
Organisation.
Die Gewerkschaften stehen in Griechenland schlechter da als in China. Seit 2012 wurde
die Arbeitszeit erhöht, seit dem 1. 7. 2024 ist auch der Samstag Arbeitstag.
Das hat Auswirkungen auf das Leben der Beschäftigten: Da Solidarität aufgrund der Tariflosigkeit
wegfällt, herrscht individueller Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. Wie
kann ein eingeschüchterter Arbeitnehmer, schlecht bezahlt, ohne Tarif, politisch aktiv
werden mit Aussicht auf Erfolg? Was kann er tun außer auswandern?
Die Eltern bereiten die Kinder schon auf die Auswanderung vor. Auch seine Tochter
wolle den Schulabschluss im Ausland machen. Von seiner Fakultät (Politik, Sozialwissenschaften,
Soziologie) werden 92% der AbsolventInnen arbeitslos. Bei Fragebögen zur
Arbeitssuche gibt es kein Kästchen für Sozialwissenschaft.
In Griechenland gibt es 450 000 offene Stellen für Köche, Bedienungen, Landarbeiter,
LKW-Fahrer, Bauarbeiter usw. Warum geht niemand auf solche Stellen? Man bekommt
500 EUR maximal, die Wohnung kostet schon 700 EUR, also ab nach Deutschland.
Aus dem Gesundheitswesen sind alleine 2023 ca. 22500 Fachkräfte ausgewandert. Vor
kurzem starb eine Touristin auf einer Insel an einem Herzinfarkt vor der Gesundheitsstation,
da der Kardiologe am Sonntag keinen Dienst hatte und weg war. Warum gibt es
keinen zweiten Kardiologen? Die meisten Wohnungen werden über AirBnB an Touristen
vermietet, so dass sie unbezahlbar sind.
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Es gibt trotz zehn Prozent Arbeitslosigkeit 500 000 offene Stellen. Tatsächlich arbeiten
sehr viele schwarz. Griechenland hat in Europa die höchste Schwarzarbeitsquote.
Seit 2007 können MigrantInnen zum ersten Mal einen legalen Aufenthaltsstatus erwerben.
Das endet zum Jahresende. Die Hoffnung ist, dass einige hierbleiben. Zum ersten
Mal schließt Griechenland Abkommen mit anderen Ländern (Bangladesch, Ägypten) zur
legalen Einwanderung. Das Interesse ist aber gering.
2022 beschloss die EU eine fantastische Direktive zu Tarifverträgen:
Bis zum 14. November 2024 sollen alle Länder ein Minimum an Tarifverträgen haben.
Die Länder müssen bis dahin ihre Gesetzgebung an einen Minimalstandard anpassen:

  • Tarifverträge im Öffentlichen Dienst;
  • Schwerpunkt Branchentarifverträge ( gibt es in Griechenland nicht);
  • In drei Jahren sollen 70% der Beschäftigten tarifgebunden sein.
    Seit zwei Jahren hat sich weder eine Gewerkschaft noch die Regierung mit dieser Direktive
    beschäftigt. Das zuständige Ministerium hat noch nichts erarbeitet, verspricht
    aber, in zwei bis drei Wochen eine Gesetzesvorlage zu erarbeiten. Es gab noch keinerlei
    Gespräche zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften dazu.
    Die Hälfte dieser Direktive umzusetzen käme schon einer Revolution gleich.
    Vor kurzem hielt Ministerpräsident Mitsotakis eine Rede: Es gebe eine halbe Million
    offene Stellen, die Migration müsse neu bewertet werden, die Arbeitgeber müssten jetzt
    die Löhne erhöhen, die Regierung habe alles getan. Von der EU-Direktive kein Wort.
    Auf Nachfrage von uns führt er zu Arbeitskämpfen in den letzten Jahren einiges aus.
    Betriebsvereinbarungen gibt es dort, wo Gewerkschaften sind, Tarifverträge akzeptieren
    die Unternehmer in der Regel nicht. Bei kleineren Betrieben und Lieferdiensten gibt es
    auch keine Betriebsvereinbarungen.
    Zur PAME, der Gewerkschaftsfraktion der kommunistischen Partei KKE:
    Diese kontrolliert das Metall- und Baugewerbe. Vor zwei Jahren schloss sie einen Tarifvertrag
    im Baugewerbe ab mit akzeptabler Lohnerhöhung. Aber PAME vereinbarte, dass
    alle Neueingestellten ausgenommen sind und erst nach zwei bis drei Jahren Beschäftigung
    die Erhöhung bekommen.
    PAME nutzt ihre Popularität nicht für Bewegungswiderstand, z.B. führt sie keine Diskussion
    um gesellschaftsweite Tarifverträge. Dort, wo sie nicht stark ist, passiert nichts.
    PAME und KKE nehmen nicht Teil an Initiativen gegen die Folgen des Klimawandels.
    Generell sind sie nirgendwo dabei, wo sie schwach sind.
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    Die Kämpfe der letzten Jahre im Hafen und bei Malamatinas (Weinproduktion) waren
    keine „Leuchttürme“, da sie isoliert blieben. Die PAME hat bei COSCO im Hafen viel erkämpft,
    sie kontrolliert das Arbeiterzentrum Piräus, aber das Gebäude bleibt für andere
    Gruppen und Kämpfe geschlossen. Sie versucht nicht neue Kämpfe zu initiieren oder
    zu unterstützen, z.B. von anderen Betriebsgewerkschaften. So gibt es in der Kommune
    Piräus zwar ein Linksbündnis, aber selbstverständlich ohne PAME.
    Es gab 2021 Kämpfe beim Lieferdienst E-Food (wir berichteten darüber in unseren
    Reiseberichten). Es gab eine große Unterstützung in Athen. Der Gewerkschaftsvorstand
    bestand dort aus Linken und Anarchisten. Sie wollten Tarifverhandlungen, das Unternehmen
    lehnte ab. 30 000 FahrerInnen fuhren durch Athen, Forderung nach Festanstellung
    statt Scheinselbstständigkeit. In der Bevölkerung gab es eine große Solidarität,
    100 000 löschten die E-Food-App von ihren Smartphones, was ein großer Schaden für
    das Unternehmen war. Der Kampf wurde gewonnen, aber die Schlacht verloren. Zwar
    wurde ein großer Teil fest angestellt, aber der Gewerkschaftsvorstand trat wegen interner
    Streitigkeiten zurück, der Tarifvertrag wurde nicht abgeschlossen, der alte Zustand
    trat wieder ein.
    Die Anarchisten sind die einzigen, die sich um die EU-Direktive bezüglich scheinselbstständiger
    LieferfahrerInnen kümmern, die für sie vorteilhaft wäre.
    (Manfred)

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